I
Das Geschäft des Übersetzens ist in jedem Fall ein Verlustgeschäft. Vorab die Lyrikübersetzung muss sich mit herben Defiziten abfinden, die nur in seltensten Fällen auszugleichen sind. Zu den Verlusten, mit denen beim Übersetzen eines Gedichts zu rechnen ist, gehören – unvermeidlich – Qualitäten wie Intonation und Stimmung, die nur in der Originalsprache voll zum Tragen kommen können. Ein Sonett von Shakespeare mit durchgehend dunklem Vokalismus oder eine Oktave von Mandelstam mit mehrfach wiederkehrenden Konsonantengruppen lässt sich auch bei höchster Texttreue in keiner Zielsprache adäquat nachbilden.
Fast ebenso gravierend sind die Defizite auf der Bedeutungsebene, die notwendigerweise entstehen, wenn gleichzeitig formale Vorgaben wie Metrum, Strophik, Reim berücksichtigt werden müssen. Jeder Lyrikübersetzer hat diese Grundsatzentscheidung zu treffen: Soll vorrangig die Aussage des zu übersetzenden Gedichts beziehungsweise das Gedicht als Aussage in die Zielsprache gebracht werden oder dessen formale Machart, mithin das Gedicht als sprachkünstlerisches Faktum?
Wer ein gereimtes Gedicht in freien Versen nachdichtet, vermag wohl eine weitgehende inhaltliche Übereinstimmung mit dem Original zu wahren, muss aber die dichterische Instrumentierung unberücksichtigt lassen. Diese heute weit verbreitete defensive Technik der Lyrikübersetzung nimmt von vornherein Verluste in Kauf, die von der Originalvorlage nur gerade den semantischen Grundriss erkennbar machen, nicht jedoch deren lautliche und rhythmische Qualitäten. Das Problem (und letztlich die Unstatthaftigkeit) dieses Verfahrens besteht darin, dass auf solche Weise nicht das Gedicht als ein Ganzes übersetzt wird, sondern lediglich – wie ein Prosatext – als eine lineare Abfolge von Wörtern und Sätzen. Dabei ist gemeinhin zu beobachten, dass derartige „wortgetreue“, an der „Aussage“ orientierte Übersetzungen in aller Regel deutlich umfangreicher ausfallen als die entsprechenden Originaltexte – die quantitative Mehrung lässt die qualitativen Defizite umso deutlicher hervortreten.
Gegenüber (und entgegen) der Gebrauchssprache zeichnet sich die Dichtersprache durch eine Vielzahl von rhetorischen – klanglichen wie bildhaften – Intensitätsbildungen aus, die insgesamt zur Verknappung der Ausdrucksweise führen: Dantes Divina Commedia und „Wandrers Nachtlied“ von Goethe, also ein sehr langes und ein sehr kurzes Dichtwerk, sind dafür gleichermaßen beispielhaft.
Verknappung als sprachkünstlerisches Prinzip? Oder – nach Anton Tschechow – die „Kürze als Schwester des Talents“?
Kürze ist nicht mit Verknappung zu verwechseln. Kürze mag die Folge formaler Verknappung sein, Verknappung also – Voraussetzung für intendierte Kürze. Kürze ist ein Faktum, Verknappung ein Prozess. Man mag dies mit Talent, mit literarischer Qualität zusammendenken, impliziert sind aber auch die Ökonomie, die Didaktik, die Popularisierung von Literatur. Man denke an die zahllosen Extrakte und Kompilate antiker Texte ad usum delphini, an die Erzählungen von C. und Mary Lamb nach William Shakespeares Dramen, an Gustav Schwabs purgierte Nacherzählung der Sagen des klassischen Altertums u. a. m.
Heute, da allenthalben Plagiate vermutet und aufgedeckt werden, dürfte die Technik der übersetzerischen Komprimierung kaum noch auf Interesse stoßen.
„10 Klassiker der Weltliteratur, zusammengefasst auf 16 Seiten“ – darunter Romanwerke wie Victor Hugos Die Elenden oder Robert Musils Mann ohne Eigenschaften – werden neuerdings bei NZZ Libro angeboten. Mit Literatur als Kunst haben solche Textverschnitte nichts zu schaffen, doch sie erinnern daran, dass Literatur schon immer durch formale Verknappung auf Nebengleisen tradiert und verbreitet wurde, und es macht den Anschein, als gebe es dafür heute ein neues Publikumsinteresse, ein Interesse an rasch konsumierbarer Literatur gleichsam in Pillenform, was wiederum – obzwar auf trivialer Ebene – einem wachsenden Bedürfnis nach Intensität entspricht.
Verknappung, Intensitätsbildung sind bekanntlich ebenso an technischen Objekten zu erfahren: Die Geräte werden immer kleiner, gleichzeitig immer komplexer. Dass der Literaturbetrieb aber weiterhin Megaromane (etwa von Gaddis, Wallace, Littell, Nádas, Vollmann, Brown u. a. m.) lanciert und belobigt, die dem Umfang und also auch dem Lektürepensum nach von kaum einem Leser, kaum einer Leserin und auch nicht von der professionellen Kritik noch bewältigt werden können, macht dieses Genre zu einem obsoleten Anachronismus.
Wie aber ließe sich nun das Prinzip der Verknappung für die Lyrikübersetzung nutzbar machen? Da Übersetzung ohnehin ein Minusverfahren ist, sollte man vielleicht und möchte ich jedenfalls überlegen, ob nicht durch die bewusste Radikalisierung des übersetzerischen Verlustgeschäfts etwas gewonnen werden könnte; ob nicht vielleicht durch zusätzliche Einschränkungen und Verknappungen neue Qualitäten zu erschließen wären – durch die Fortlassung (und Neumontage) einzelner Verse oder Strophen, die Ausklammerung von Metaphern oder Vergleichen, den Verzicht auf bestimmte Adjektive oder Appositionen, die Brechung des Metrums u. ä. m.
Die Frage, die Überlegung mag provokant sein, verliert aber an Schärfe, wenn man umgekehrt bedenkt, was es bedeuten würde, einen vorliegenden Text – zumal ein Gedicht – in der Übersetzung und durch die Übersetzung zu erweitern, sie also um zusätzliche Verse oder Strophen zu ergänzen. Dieses Verfahren wäre kompromisslos abzulehnen, da es dem Originaltext Elemente beilegen würde, die der Autor nicht selbst verfasst und auch nicht vorgesehen hat. Anders bei der Kürzung: Hier werden ausschließlich Textextrakte verwendet, die im vorliegenden Gedicht jeweils vollumfänglich enthalten, wenn auch anders kontextualisiert sind.
Die Kürzung kann also, da sie den Kontext der betroffenen Strophe oder des Gedichts insgesamt auflöst, dazu führen, dass aus einem Landschaftsgedicht ein Liebesgedicht oder aus einem Liebesgedicht ein religiöses Gedicht wird, so wie, in struktureller Hinsicht, aus einer vielstrophigen Ballade ein Sonett, aus einem Sonett eine Oktave werden kann. Und mehr als das – aus einem schwachen oder mittelmäßigen Gedicht kann durch planvolle Reduktion und Remontage des Textbestands ein starkes Gedicht werden.
Die Frage nach Form und Bedeutung wird damit um die Qualitätsfrage ergänzt, die als solche die Grundsatzfrage nach sich zieht, ob die Übersetzung, so praktiziert, noch als Nachdichtung oder bereits als eigenständige Dichtung zu gelten hat und inwieweit sich bei diesem Verfahren der Status des Nachdichters dem des Originaldichters angleicht. Damit ist auch generell die Demarkationslinie zwischen dem Fremden und dem Eigenen erreicht, eine Linie, deren Übertretung man ablehnen mag, aber auch als eine qualitativ neue Schreibbewegung einüben kann – sei’s als eine besondere Art der Lyrikübersetzung, sei’s als eine neue spezifische Dichtungstechnik. Dichtungstechnik wäre in diesem Fall eine an (vorzugsweise gleichsprachigen) Fremdtexten applizierte Technik der Verdichtung.
Was sich da so innovativ, so spezifisch, vielleicht allzu fordernd oder gar unstatthaft ausnimmt, ist so neu auch wieder nicht, wenn man zum Vergleich andere – außerliterarische – Textsorten heranzieht, die eben dadurch charakterisiert sind, dass ihre Entstehung notwendigerweise die Verknappung eines bereits bestehenden Fremdtexts voraussetzt. Zu diesen reduktionistischen Textsorten gehören das Exzerpt und das Zitat (Auszüge aus Fremdtexten), aber auch das Kompilat oder das Plagiat (Montage von Fremdtexten), das Resümee (Zusammenzug eines Fremdtexts) und das Abstract (Zusammenzug eines eigenen Texts).
Eine Sonderstellung nimmt das Fragment ein, das zwar als Kurzform oder als gekürzte Form gilt, jedoch nicht durch Kürzung zustande kommt, sondern dadurch, dass es als Bruchteil eines geplanten, aber nicht abgeschlossenen Texts beziehungsweise als Restbestand eines verloren gegangenen Textganzen übrig bleibt. Ausschließlich reduktionistisch funktioniert bekanntlich auch die Zensur, die vorliegende Fremdtexte durch Kürzungen (Streichungen) in Übereinstimmung mit offiziellen, stets inhaltlich bestimmten Vorgaben (verbotene Begriffe, Namen, Anspielungen usf.) zu begradigen hat.
II
Doch zurück nun zu meinem Vorschlag, Lyrikübersetzung und Textreduktion simultan zu bewerkstelligen als Komprimat, das heißt als eine verknappende Nachdichtung, die den Originaltext zusammenschneidet, ihn allenfalls von formalen Vorgaben (wie Metrum, Reim usf.) befreit, um ihn in solchermaßen verfremdeter Gestalt in die Zielsprache zu übertragen. Die unvermeidlichen quantitativen Einbußen, die dieses Verfahren mit sich bringt, müssen und können ausgeglichen werden durch einen Gewinn an Prägnanz, an prosodischer wie an metaphorischer oder rezeptionsästhetischer Intensität.
Die Verknappung als solche wird dort am unauffälligsten bewerkstelligt, wo sie Wiederholungen, Redundanzen, Pleonasmen usf. beseitigt; sie kann auch die Anzahl gewisser Wortarten – vorzugsweise Eigenschafts- und Umstandswörter – reduzieren. Merklichere Kürzungen und damit tiefere Eingriffe in den strukturellen und ideellen Status der Übersetzungsvorlage ergeben sich notwendigerweise durch die Eliminierung ganzer Versgruppen oder Strophen. Durch solcherart komprimierende Übersetzung kann – beispielsweise – eine vorliegende mehrstrophige Elegie in der Zielsprache radikal auf ein Distichon oder gar auf einen aphoristischen Einzeiler reduziert werden. Meist dürfte die Verknappung aber so ausfallen, dass die Übersetzung im Ergebnis als eine gekürzte Variante des Originals erkennbar bleibt.
Diesen verfahrenstechnischen Hinweisen und Überlegungen wie auch generell meinem Vorschlag, fremdsprachige Poesie zumindest versuchsweise in komprimierter Form nachzudichten, ist beizufügen, dass dafür nicht jeder Text gleichermaßen geeignet ist. Lyrische Kurzformen in der Übersetzung noch einmal zu kürzen, ist in manchen Fällen zwar durchaus möglich, doch weit weniger ergiebig, als wenn ich ein Langgedicht zu einer acht- oder zwölfzeiligen Strophe komprimiere.
Darf der Übersetzer, nunmehr als Nachdichter etabliert, die Autorschaft des so geschaffenen Gedichts beanspruchen? Warum eigentlich nicht?
Eine besondere Schwierigkeit stellt sich naturgemäß bei gereimten Textvorlagen. Da Reimpaarungen – wie auch immer sie angelegt sind – nicht aufgelöst werden dürfen, können Kürzungen nur im Innern der Verse vorgenommen werden, falls man nicht überhaupt auf den Erhalt der Paarungen oder gar auf ganze Strophen verzichtet. Ein klassisch komponiertes und gereimtes Sonett bietet, falls überhaupt, nur sehr wenig Spielraum für eine reduktionistische Nachdichtung, während umgekehrt ein noch so umfangreicher Text in freien Versen entsprechend vielfältige Möglichkeiten produktiver Verknappung bietet.
Von allen Übersetzern hat sicherlich Ezra Pound die Verknappung am weitesten getrieben mit einer komprimierenden Nachdichtung, die für die gesamte frühgriechische Lyrik stehen sollte und die gleichwohl nur vier Wörter umfasst: „Spring – Too long – Gongyle.“ In einem einzigen Vers glaubte Pound eine ganze dichterische Epoche – mit Sappho, Gongyla u. a. m. – übersetzen und als intensives Klangereignis vergegenwärtigen zu können. Ein Meister übersetzerischer Verknappung war auch der russische Dichter Aleksandr Puschkin, der – um bloß zwei Beispiele zu nennen – ein Gedicht des Xenophanes in seiner russischen Fassung um die Hälfte kürzte und John Wilsons dramatisches Poem The City of the Plague beim Übersetzen von 400 auf 240 Verse zusammenstrich. In diesen und sehr vielen andern – vergleichbaren – Fällen sind gegen die Eigenwilligkeiten der Übersetzer keine Einwendungen laut geworden.
Heute, da allenthalben Plagiate vermutet und aufgedeckt werden, dürfte die ohnehin in Vergessenheit geratene Technik der übersetzerischen Komprimierung kaum noch auf Interesse stoßen. Der einzige zeitgenössische Protagonist dieser Technik, der Übersetzer und Dichtungstheoretiker Michail L. Gasparow, hat jedenfalls zu Lebzeiten (er starb 2005 in Moskau) mit seinen zahlreichen komprimierenden Nachdichtungen kein nachhaltiges Interesse ausgelöst. Ich selbst möchte nun – vorerst in sehr beschränktem, rein experimentellem Rahmen – einige diesbezügliche Versuche vorlegen und zur Diskussion stellen.
III
Die mit Abstand stärkste Verknappung ergibt sich bei meiner Übersetzung von John Ashberys Großgedicht Flow Chart (1991), das in Buchlänge mehr als 6000 freie Verse zu einem kolloquial intonierten Monolog zusammenschließt – 6000 Verse, die offenbar exprompt formuliert, wenn nicht überhaupt improvisiert sind, die aber doch mit dem Anspruch daherkommen, das Leben, die Epoche, das Weltbild des lyrischen Ich – das in diesem Fall wohl weitgehend mit dem Autor identisch ist – in einer Panoramafahrt durch wechselnde Zeiten und Räume vorzuführen. Der mit zahlreichen Lehr- und Leerformeln durchsetzte, über weite Strecken inkohärent und beliebig wirkende Makrotext wird in meiner übersetzerischen Kurzfassung zu einem schlichten, strukturell wie gedanklich stringenten Gedicht, dem man seine Herkunft kaum noch anmerken kann, obwohl jedes Wort – und jedes Wort in seiner ursprünglichen grammatischen Form – dem Original entnommen ist. Insgesamt 18 Verse, im Durchschnitt nicht einmal halb so lang wie bei Ashbery, fügen sich in meiner Übersetzung zu einem quantitativ wie qualitativ völlig neuen Gebilde, zu dem der Autor jedoch sämtliche Elemente im Originaltext vorgibt:
Man rügt den Horizont dafür,
dass er nichts Besseres zu bieten hat.
Nur ist im selben Augenblick
der ganze Tanz oder was auch immer
vorbei. Wobei mir einfällt:
Ich hätte gerne deine Aufmerksamkeit,
nicht bloss deine Augen plus
Gesicht. Idiotisch, findest du nicht? Komm schon,
sprich mit mir hinter dem Schirm
des Wasserfalls, wo’s spukt und Utopien
in einem Sekundenbruchteil scheitern
können. Es ist Zeit, aus eigner Kraft loszugehn.
Nicht um das Aufdämmern neuer Blüten
zu erleben, denn öd ist nicht öd
genug, solang die Nacht und ihre Lichter noch
nah sind. Ich denke, ich geh jetzt,
ehrlich, ich tu’s – jetzt oder Schluss. Bis
zum verpatzten Akkord.
Ich dokumentiere mein Verfahren zusätzlich anhand eines der bekanntesten Gedichte von Sylvia Plath, stelle hier aber den Originaltext voran, um das Vorgehen beim Übersetzen und Komprimieren leichter nachvollziehbar zu machen.
Ariel
Stasis in darkness.
Then the substanceless blue
Pour of tor and distances.
God’s lioness,
How one we grow,
Pivot of heels and knees! — The furrow
Splits and passes, sister to
The brown arc
Of the neck I cannot catch,
Nigger-eye
Berries cast dark
Hooks —
Black sweet blood mouthfuls,
Shadows.
Something else
Hauls methrough air —
Thighs, hair;
Flakes from my heels.
White
Godiva, I unpeel —
Dead hands, dead stringencies.
And now I
Foam to wheat, a glitter of seas.
The child’s cry
Melts in the wall.
And I
Am the arrow,
The dew that flies
Suicidal, at one with the drive
Into the red
Eye, the cauldron of morning.
Dazu die komprimierte Nachdichtung:
Ariel
Stasis in Finsternis. Dann der blaue substanzlose
Ausstoss von Zacken und Distanzen.
Löwin Gottes! Wie wir eins werden, Drehpunkt
Von Fersen und Knien! Die Furche geht
Auf und davon, Schwester des braunen
Nackenbogens, denn ich nicht packen kann.
Münder voll von süssem Schwarzblut,
Schatten. Als weisse Godiva entblösse
Ich mich – tote Hände, tote Rigorismen.
Das Weinen des Kinds schmilzt in die Wand.
Der Tau, selbstmörderisch, entschwindet, eins
Mit dem Flug ins rote Aug, den Tank, wo’s tagt.
Die insgesamt 30 Verse beziehungsweise zehn Strophen mit jeweils drei unterschiedlich langen, durchwegs ungereimten, oft nur lose durch Enjambements verbundenen Zeilen werden in der Übersetzung verknappt auf sechs Kurzstrophen mit je zwei ungefähr gleich langen Versen. Das Originalgedicht wird durch die reduktionistische Übertragung in seinem Aufbau völlig umgestaltet; es verliert dadurch ein knappes Drittel seines Umfangs, aber kaum etwas von seiner Aussage und seiner emotionalen wie prosodischen Gestimmtheit.
Was sich naturgemäß ebenfalls ändert, ist der Status der Autorschaft am Übersetzungstext. Auch wenn das gesamte übrig gebliebene Wortmaterial – Einzelwörter, Wortverbindungen, ganze Sätze – auf Sylvia Plaths Originalgedicht zurückgeführt werden kann, entspricht das übersetzte Gedicht weder ihrem formalen Dispositiv noch ihrer Fassung letzter Hand. Ich als Übersetzer habe zwar ausschließlich Vorgaben aus dem Originaltext in die Zielsprache gebracht, bin mit diesen Vorgaben aber frei verfahren, indem ich sie neu komponiert und sie zudem in eine neue strophische Anlage eingebracht habe.
Die Funktion der Übersetzung wird damit erweitert zur auktorialen Nachdichtung – der Fremdtext liefert lediglich die Versatzstücke, aus denen in der Zielsprache ein weitgehend eigenständiges Gedicht entsteht. Ob jedoch der Übersetzer, nunmehr als Nachdichter etabliert, die Autorschaft des so geschaffenen Gedichts beanspruchen darf, ist eine ebenso offene Frage wie die Gegenfrage – warum denn eigentlich nicht? Wodurch unterscheidet sich eine derartige Nachdichtung von einem Originalgedicht? Dass der Nachdichter sein Wortmaterial nicht aus dem Wörterbuch oder aus dem Fundus der Alltagssprache gewinnt, sondern aus einer fremdsprachigen Textvorlage, ändert nichts daran, dass er technisch genau so verfährt wie der Verfasser eines sogenannten Originalgedichts.
Ich führe ein weiteres Textbeispiel an. Es handelt sich dabei um ein übersetzerisches Kondensat, das ich anhand des zwölfteiligen Gedichts Post aetatem nostram (1970) von Joseph Brodsky durch diverse Kürzungen und eine gänzlich neue strophische Anordnung hergestellt habe. Die Nachdichtung aus dem Russischen beruht auf den unterschiedlich langen und unterschiedlich ausgearbeiteten Sektionen I bis V, die im Original 14 Strophen umfassen; von den insgesamt 107 ungereimten Verszeilen sind deren 20 erhalten geblieben, mithin rund ein Fünftel des ursprünglichen Gesamtbestands. Allen Verlusten zum Trotz ergibt sich in der Zielsprache ein starkes Gedicht, das einerseits künstlerische Eigenständigkeit beanspruchen kann und das andererseits den unverkennbaren Sound von Brodskys lyrischer Rhetorik bewahrt:
Post aetatem nostram
Ein Land für Narren – das Imperium. Zwei
marmorne Figuren – Satyr, Nymphe – fixieren
mit dem Blick den Grund des Teichs,
auf dessen Oberfläche Rosenblüten schwimmen.
Die Statuen, die Teiche werden rarer,
je mehr man sich vom Schloss entfernt. Fassaden
verlieren ihren Putz und Balkontüren
– sofern vorhanden – bleiben zu. Den Mauern
ist nachts der Schutz der Ruhe vorbehalten.
Die Bahn des Mondes strömt, verströmt sich,
wird von einem schwarzen Kahn geschnitten,
der katzengleich vorübergleitet und
sich auflöst in der Nacht – mit dem Signal:
es lohne nicht, sich weiter vorzuwagen.
……………………………………………………….
……………………………………..
……………………………………………………
……………………………………………
(Die Eigenart der Poesie ist die,
dass es für sie keine Begrenzung gibt.)
IV
Je höher der Verdichtungsgrad und der Verlust an formaler wie inhaltlicher Übereinstimmung sind, desto mehr entfernt sich die Übersetzung vom Original und desto mehr gewinnt sie damit auch an Eigenständigkeit. Von daher ist es bloß ein kurzer Schritt bis hin zur Frage, ob sich das Verfahren der komprimierenden Nachdichtung nicht auch auf Originaltexte innerhalb ein und derselben Sprache anwenden ließe; ob also in ähnlicher Weise deutsche Gedichte in deutscher Sprache renoviert und zu Texten eigener, vielleicht ganz anderer Qualität umgerüstet werden könnten?
Da in diesem Fall keine Übersetzung stattfindet, sind die Eingriffe in die Textgestalt – und damit der Angriff auf die Autorschaft! – noch deutlicher zu erkennen als bei zwischensprachlicher Nachdichtung. Denn hier werden ja doch die vom Autor selbst gesetzten Wörter buchstabengleich, wenn auch nur auswahlsweise und bei entsprechend verändertem Kontext, übernommen. Um diesen Vorgang zu verdeutlichen, rücke ich hier meine komprimierende Nachdichtung eines großen Gedichts von Rainer Maria Rilke ein; es handelt sich um das mythologische Erzählgedicht Orpheus. Eurydike. Hermes aus dem Jahr 1904, dessen 95 Verse ich auf 17 reduziere und so zu einem qualitativ neuen und eigenständigen Text zusammenführe:
Felsen waren da und Wälder. Brücken über Leeres
und jener grosse graue blinde Teich
wie eine lange Bleiche hingelegt. Dass eine Welt
aus Klage ward, in der alles noch einmal
da war: Wald und Tal und Weg und Ortschaft,
Feld und Fluss und Tier. Ganz so
wie um die andre Erde eine Sonne und ein
gestirnter stiller Himmel ging.
Wie eine Frucht von Süssigkeit und Dunkel,
so war sie voll von ihrem grossen
Tode, sanft und ohne Ungeduld. Sie war schon
aufgelöst wie langes Haar und
ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat. Und als jäh
der Gott sie anhielt, begriff sie
nichts. Fern aber stand jemand, dessen Angesicht
nicht zu erkennen war.
Er stand
und sah, unsicher sanft und ohne Ungeduld.
Das durch willkürliche Verknappung gewonnene Gedicht stammt Wort für Wort von Rilke und ist dennoch in dieser Fassung von ihm nicht geschrieben worden. Wer den Text im neuen Wortlaut liest, wird ihn vermutlich gleichwohl dem ursprünglichen Autor zuschreiben, dessen damaliger lyrischer Stil unverkennbar erhalten geblieben ist. Die Nachdichtung vermag hier die Intonation des Originals nicht zu beeinträchtigen, sie begradigt lediglich dessen überbordenden Wortreichtum und intensiviert damit seine Ausdrucks- und Aussagekraft. Inwieweit bei diesem Vorgehen Rilkes Kunstwollen konterkariert wird, ist ebenso schwer auszumachen wie die Eigenleistung des Nachdichters, der kein einziges eigenes Wort in den Text eingebracht, den Text jedoch als solchen vollumfänglich und eigenständig komponiert hat.
Mit einem Selbstversuch schließe ich die kleine Testreihe ab. Ich erprobe das Verfahren der nachdichterischen Verknappung an einem von mir verfassten Langgedicht, das ich erstmals 2005 unter dem Titel „Tierleben“ vorgelegt habe. Das Gedicht umfasst in der damaligen Redaktion zehn durchnummerierte Strophen und gesamthaft ungefähr 300 freie Verse, von denen viele refrainartig wiederholt werden. Die verknappte Textfassung beruht auf den Strophen 0 bis IV, was ungefähr 130 Versen entspricht; davon verbleiben 18 Zeilen, die nun das nachstehende, um vieles kürzere Gedicht konstituieren:
Wo der Ja!-Leib klart. Und
wie im Märch… das Spieglein an der Wand! Was
tobt. Die Schönheit im Auge
des Andern. Ein oft besuchter Ort wo Leere
staunt. Wo der Leib die Wärme
oder die Wärme den Leib sucht. Wo inmitten
der Nixe die Quelle rumort und
leis eine Oper beginnt. Wo Samt und Asche weiss
aber schwarz sind und echt
gefälscht das sächliche Geschlecht. Mit dem Gesicht
das lacht wenn die Strafe es trifft.
Der Name dessen der im Spiegel Schmiere steht
und vergeht. Kalt wie jeder Vergleich.
Wer wäre er. Der sich ein Gesicht andichten liesse.
Und nestelte dem Nächsten – zuck! –
die Maske vom Geschlecht. Sagt statt Amen zweimal
Ich! Und schon schiesst das Beutetier
ins Bild. Um nach sich selbst zu schnappen. Bis!
Die Frage nach der Autorschaft derartiger Nachdichtungen stellt sich hier mit besonderer Dringlichkeit, da ich ja selbst sowohl die Vorlage wie auch die komprimierte Übertragung abgefasst habe. Liegen damit unter meinem Namen zwei eigenständige Gedichte vor oder kann die aktuelle Nachdichtung bloß als Variation auf den Urtext von 2005 gelten? Man sollte sich, auf der Suche nach einer valablen Antwort, daran erinnern, dass jedes Gedicht das Ergebnis radikaler Streichungen ist, und auch umgekehrt – dass jedes Gedicht eine Textmenge voraussetzt, die um ein Vielfaches größer ist als seine definitive Fassung. Originaldichtung und Nachdichtung wären demnach, so wie ich sie hier darstelle und erprobe, als analoge, qualitativ gleichwertige Schreibbewegungen zu begreifen, und der Nachdichter hätte, nicht anders als der Originaldichter, Anspruch auf – Autorschaft.
* * *