Es ist nichts Außergewöhnliches, sagte die Großtante, als sie aus dem Fenster zeigte. Wir saßen auf der Kücheneckbank und drehten uns um. Auf der anderen Straßenseite sahen wir die Gendarmerie, rechts davon den großen Parkplatz. Jetzt ist sie schon weg, sagte die Großtante und zeigte zu dem Straßenschild, wo wir an Sonntagen die Zeitung holten. Ihr seid zu langsam gewesen. Die Großtante nickte und ließ Süßstoff in ihren Kaffee fallen, bevor sie weitersprach: Sie holt sie vor dem Frühstück und bringt sie nachher gleich zurück, als ob sie ungelesen wäre, wisst ihr, sie gibt gut acht. Sie, das war eine Nachbarin mit krummem Rücken und geblümtem Kittel, das war die Zeitung, in der stand, was sie schrieben. Wer sie waren, das war nicht immer klar, aber was sie schrieben, hatte irgendwo Gewicht. Ich erinnere mich nicht daran, die Nachbarin je beim Zeitungsholen gesehen zu haben, aber daran, dass die Großtante damit einverstanden war, nicht zu bezahlen, solange die Zeitung nach dem Lesen wieder zurückgebracht wurde. Wir trugen sie nicht zurück, wir legten sie zum Altpapier oder verheizten sie im Ofen, wir zahlten dafür.
Manche Geschichten sammle ich der Titel wegen: „Odyssee einer herrenlosen Sau“, „Kärntner erstickt an Schweinestelze“, „Afrikanerin zersägt Ehemann“.
Als täglich Alles auf den Markt kam, lobte die Großtante die Kreuzworträtsel und schimpfte über die Brandqualität des Papiers. Ich mochte die bunten Bilder, die Giraffe auf den Zeitungsständern und das Geräusch von drei Schillingen, die nacheinander in die Box auf den Selbstbedienungstaschen fielen. Dass man täglich Alles nicht wegen der Artikel, sondern wegen der Kreuzworträtsel lesen sollte, war schnell klar. Als Achtjährige mit einer Vorliebe für Robin Hood mochte ich allerdings das Motto am Titelblatt: „Kritisch gegenüber den Mächtigen, hilfreich den Schwachen, den Tatsachen verpflichtet“. Ich erinnere mich an zwei Schlagzeilen, die später unter diesem Satz abgedruckt waren: Dass Thomas Klestil AIDS habe, und dass Schweinchen Babe zu einem Wienerschnitzel verarbeitet wurde.
Die Großtante starb vor achtzehn Jahren, täglich Alles wurde fünf Jahre später eingestellt, das sonntägliche Lesen von Zeitungen, die alles andere als Qualitätsmedien sind, ist mir geblieben. Ich lache, ich ärgere und schäme mich, ich trinke jede Menge Kaffee, während ich sie durchblättere, am liebsten den Chronikteil. Manche Geschichten sammle ich, allein schon der Titel wegen: „Odyssee einer herrenlosen Sau“, „Kärntner erstickt an Schweinestelze“, „Afrikanerin zersägt Ehemann“, „Klopapier verursachte tödlichen Radsturz“, „Schwarzer Kater schaltet Herd ein – Wohnung in Brand“.
Interview mit Kuh Hermine
Meine neueste Entdeckung ist das Gut Aiderbichl Magazin, es liegt kostenlos in einigen Autobahnraststationen auf. In der Herbstausgabe wird die Kuh Hermine interviewt, die dem Schlachthof entflohen ist: Möchtest Du mit Deiner Ohrenmarkennummer oder mit Deinem Namen angesprochen werden? Ich heiße Hermine und war die einzige Zweijährige im Stall, die vom Bauern einen Namen bekommen hat. Meine Mutter heißt Hommel. (…) Du bist erst zwei Jahre alt, warum solltest Du schon geschlachtet werden? In meinem Alter fallen die Würfel. Einen Stier habe ich nie gesehen. Der Tierarzt hat mehrere Male versucht, mich künstlich zu besamen. Aber mein Körper hat nicht wunschgemäß reagiert. (…) Also war es dort nicht schön, wo Du gelebt hast? Der Hof war meine Heimat, ich kannte den Bauern und ich wollte von dort nicht weg. (…) Woher hast Du die Kraft genommen? Es ist die Angst gewesen. Alle haben mich ja nur wegen meines Lebens gejagt. Eigentlich wollte niemand wissen, dass ich immer brav war in meinem ganzen Leben und auch niemals ausgeschlagen habe. Ich sollte sterben und das wollten die Verfolger. Und jetzt, bist Du die zweite Yvonne? Die kenne ich leider nicht. Aber Isabella, mit der ich oft gemeinsam auf der Weide bin, die ist genauso wie ich.
Drei Fotos sind auf der Seite abgedruckt. Auf dem größten Bild, dem einzigen in Farbe, schaut Hermine mit schief geneigtem Kopf in die Kamera. Links unten ist sie mit einem Schwein und zwei Kälbern auf Gut Aiderbichl zu sehen, die drei gehen an einem Schild mit der Aufschrift „Gutsführungen“ vorbei. In der Mitte der Seite blickt Hermine mit offenem Maul nach links. Wäre es an den Selbstbedienungstaschen in Wien erhältlich, würde das Gut Aiderbichl Magazin möglicherweise öfter am Wochenende in meiner Wohnung liegen, vielleicht auch, weil es mich an die täglich Alles-Lektüre meiner Kindheit erinnert. So bleibt es bei Österreich und der Kronen Zeitung. An Sonntagen lese ich Boulevardmedien und versuche zu verstehen, warum manche Dinge sind, wie sie sind.
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UNWÜRDIGE LEKTÜREN
Auf die Frage nach den wichtigsten Büchern werden immer wieder dieselben Titel genannt:
Der Mann ohne Eigenschaften, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Madame Bovary, die Odysee, die Bibel … Im realen Leseleben spielen aber oft ganz andere Texte die Haupt- oder zumindest eine gewichtige Nebenrolle, unwürdige Lektüren, auf die man nicht gerade stolz ist, derer man sich aber nicht enthalten kann. Vom Überästheten Ludwig Wittgenstein ist bekannt, dass er amerikanischen Schundromanen, der pulp fiction, verfallen war, Franz Kafka zählte zu den diskreten Abonnenten einer erotischen Zeitschrift.
VOLLTEXT hat Schriftsteller und Büchermacher nach ihren „Unwürdigen Lektüren“ gefragt.
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