Ferdinand de Saussure (1857–1913), wohl der luzideste und sicherlich der innovativste Sprachdenker der europäischen Moderne, ist zugleich eine der rätselhaftesten Persönlichkeiten im seinerzeitigen Wissenschaftsbetrieb – ein Mann, der unentwegt forschte und schrieb, und der doch nie ein eigenes Buch zusammenbrachte; einer, dem es permanent vor dem Stocken seiner Feder und seiner Stimme graute; der sich ohne Not eine glanzvolle Gelehrtenkarriere entgehen ließ; dem man immer wieder nachsagte, alkoholabhängig oder gar geisteskrank zu sein; ein Forscher von globaler Wirkungskraft, dessen wegweisendes Hauptwerk zur allgemeinen Linguistik erst postum aus Vorlesungsskripten kompiliert und als „Cursus“ herausgegeben wurde; ein Mensch von glanzvoller Herkunft und eindrücklicher Gestalt, der mit fünfundfünfzig Jahren viel zu früh starb … vielleicht auch sterben wollte.
Für Ferdinand de Saussure, dessen Todestag sich am 22. Februar zum hundertsten Mal jährte, scheint das Studium „der Sprache“ – über das Studium der Sprachen hinaus – immer auch eine Beschäftigung mit Gott und der Welt gewesen zu sein, und im Sprach- und Sprechvermögen der Menschen glaubte er ein allgemeines Funktionsprinzip menschlichen Verhaltens zu erkennen oder jedenfalls eine Analogie dazu, ein variables Modell. Claude Lévi-Strauss hat dieses Modell für seine strukturale Anthropologie produktiv gemacht. Am Beispiel der Dichtersprache versuchte de Saussure aufgrund numerischer, metrischer und lautlicher Analysen die Eigendynamik der Textgenese nachzuweisen, einen autopoetischen Vorgang, der für alle Sprachen Geltung haben sollte, den er aber – auf insgesamt rund 3.600 Manuskript- und Skizzenblättern – vorrangig an Gedichten griechischer und lateinischer Sprache überprüfte. Dabei entdeckte er als Grundprinzip poetischer Rede die anagrammatische Entfaltung eines vorgegebenen Themaworts, das durch die vielfältige Versetzung und Vertauschung einzelner Buchstaben oder Buchstabengruppen den entstehenden Text vorantreibt und das letztlich auch in ihm eingeschrieben bleibt.
Mechanismen dichterischer Rede
De Saussure hat für dieses Phänomen bei ganz unterschiedlichen Autoren so zahlreiche Belege gefunden, dass er die Anagrammentfaltung für einen universell funktionierenden Mechanismus dichterischer Rede halten durfte. Dazu gibt es inzwischen beliebig viele einschlägige Abhandlungen und zusätzliche Textbeispiele, die das Prinzip des assonantischen Leitwortstils im Wesentlichen bestätigen. Für Ferdinand de Saussure stand aber, nach Jahren des Auszählens und Vergleichens, keineswegs der Mechanismus der anagrammatischen Textgenese im Vordergrund, sondern die doppelte Frage, ob und inwieweit der Mechanismus automatisch abläuft und statistisch erfassbar ist oder ob er vom jeweiligen Autor bewusst eingestellt und gesteuert wird – die Frage mithin, ob und inwieweit Dichtung gleichsam „selbstredend“, also unabhängig vom Willen des Autors entsteht.
An einem Gedichttext, den Ferdinand de Saussure noch nicht gekannt haben kann, sei der Prozess der Wort- und Versentfaltung in aller Kürze demonstriert. Das weithin bekannte Gedicht entstammt Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus (I-11) und hat folgende Sprachgestalt:
Sieh den Himmel. Heißt kein Sternbild Reiter?
Denn dies ist uns seltsam eingeprägt:
dieser Stolz aus Erde. Und ein Zweiter,
der ihn treibt und hält und den er trägt.
Ist nicht so, gejagt und dann gebändigt,
diese sehnige Natur des Seins?
Weg und Wendung. Doch ein Druck verständigt.
Neue Weite. Und die zwei sind eins.
Aber sind sie’s? Oder meinen beide
nicht den Weg, den sie zusammen tun?
Namenlos schon trennt sie Tisch und Weide.
Auch die sternische Verbindung trügt.
Doch uns freue eine Weile nun
der Figur zu glauben. Das genügt.
Man wird Rilke nicht für einen Worttüftler halten, der mit Buchstaben und Lauten hantiert, um die dichterische Rede nach numerischen, also quantitativen Kriterien auszurichten und unter Kontrolle zu halten. Eher gilt er doch als ein Autor, der beim Schreiben lieber auf Eingebung und Vision zählt denn auf poetisches Kalkül. Umso bemerkenswerter ist deshalb die objektiv feststellbare Tatsache, dass er sein Sonett (wie manche andere Gedichte auch) im Wesentlichen aus einem einzigen Themenwort entwickelt, und dies in einem Kontext, der sich ebenfalls aus nur wenigen markanten Lettern- und Lautverbindungen aufbaut. Sich aufbaut oder aufgebaut wird? Das ist bei de Saussure die zentrale Frage.
Es ist ein Leichtes, den Rilkeschen Gedichttext auf das Leit- oder Themawort Weite zurückzuführen und ihn als klangliche Emanation dieses Worts zu erfassen. Der knappe Lautbestand von Weite ist in mannigfacher Abwandlung und auffälliger Häufung über den gesamten Text verstreut in Partikeln wie „ei“, „eit“, „te“, „wie“, „wei“ usf. und konkretisiert sich in den assonantischen Wörtern „heißt“, „Reiter“, „Zweiter“, „Weide“, „Weile“, „beide“, „treibt“ usf. Gleich schon der erste Vers ist ausschließlich von den im Grundwort enthaltenen Selbstlauten e und i getragen, ergänzt durch ie und ei sowie dreimal durch den Zahnlaut t. Geht man das Sonett Vers für Vers und Strophe für Strophe durch, erschließt sich seine Lautstruktur als ein assonantisches Ensemble, das bei all seiner Ausgeglichenheit von bemerkenswerter Vielfalt ist. Handelt es sich dabei nun aber um einen primär sprachlich bedingten Prozess oder um ein bewusstes dichterisches Verfahren?
Zufall oder Spiel?
Ferdinand de Saussure bleibt angesichts seines reichen Forschungsmaterials unschlüssig und lässt – für ihn als Wissenschaftler ein bedauerliches Defizit! – die Alternative offen, ob es sich bei den lautlichen Verdichtungen und Verschiebungen in den von ihm untersuchten Texten um zufällige, mithin „unvermeidliche“ Lautkonstellationen handelt oder aber um „ein willkürliches Spiel des Dichters“. Wäre die Dichtersprache tatsächlich und vorwiegend ein sich selbst regulierendes Lautsystem, dann müsste der Autor seine Autorität an die Sprache abtreten und auf seine bloß behauptete, nicht wirklich ausgeübte Autorschaft verzichten.
Treibt man diese Überlegung mit de Saussure weiter und überträgt sie von der Sprache generell auf das menschliche Leben und das menschliche Schicksal, dann stellt sich unausweichlich auch die viel allgemeinere Frage nach Zufall und Notwendigkeit, also nach der Freiheit des Menschen. Inwieweit kann ich Autor meiner Biografie sein? Inwieweit ist mein Leben durch vorgegebene, zufällige und bewusst gesetzte Fakten bestimmt? Wie wirken diese Fakten aufeinander ein? An dieser Frage ist Ferdinand de Saussure wohl irre geworden; an diesem Punkt seiner Forschungen hat er eingehalten und möglicherweise resigniert. Doch mit seinem Zeitgenossen Paul Valéry glaubte er in der Sprache das gewaltigste Gesamtkunstwerk der Menschheit zu erkennen und in der Poesie dessen ursprüngliche Ausprägung.
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