Charlotte Cohen. Sie ist in Linz geboren, ihr Mädchenname steht auf der Marmortafel in der Synagoge, die der Ermordeten der Vorkriegsgemeinde gedenkt, es sind die Namen ihrer Verwandten. Ihre Geschichte kenne ich nicht, ich habe kein einziges Mal mit ihr gesprochen, aber ihr Tod geht mir nah. Als Hitler unter Jubel in die Stadt einzog, war sie fünfzehn. Mit einem Kindertransport, heißt es, habe sie nach Südafrika fliehen können. In Israel verbrachte sie ihr erwachsenes Leben, sie heiratete einen Frommen und zog drei Kinder groß, Abigail, Hadassa und David. Acht oder neun Jahre vor ihrem Tod kam sie nach Linz zurück, allein, eine mittellose alte Frau über siebzig. So spät verließ sie ihr Land und ihre Familie. Um in ihre Kindheit zurückzukehren? Was war es, das sie dazu bewegte, gerade hierher zu kommen, um ihre letzten Jahre in einer ihr fremd gewordenen Stadt unter Fremden zu leben, unter Menschen, bei denen sie nie sicher sein konnte, ob sie oder ihre Väter zu den Mördern von damals zählten. Waren es die Erinnerungen an ihre Kindheit, die im Alter wieder wichtig werden, in die sie sich zurücksehnte? Jedenfalls kam sie zurück und niemand hatte auf sie gewartet. Auch sie hatte nicht mehr die Kraft für einen Neubeginn, wie auch, ohne Geld, ohne Familie, zu alt, um Arbeit zu finden. Eine kleine, etwas formlose Frau mit grauem, ungepflegtem Haar und einem guten, wenn auch freudlosen und ein wenig mißtrauischen Gesicht. Selten erschien sie zum Kabbalat Schabbat, und wenn jemand sie fragte, wer sie sei, wandte sie sich ab. Sie hatte einen tiefen Abscheu allem gegenüber, was sich als fromm ausgab, sie wollte mit Religion nichts mehr zu tun haben und die sephardische Aussprache des Hebräischen, die sie aus ihrem erwachsenen Leben kannte, mochte sie nicht. Sie kam zu den Hohen Feiertagen, wenn der Vorbeter aus Ungarn das Aschkenasisch betete, das sie an ihre Kindheit erinnerte. Sie hielt sich am Rand und verweigerte das Gespräch, ohne unfreundlich zu sein. Sie reagierte einfach nicht und ging wortlos weg.
Meine Freundin Beate suchte ihre Freundschaft, lud sie ins Restaurant zum Essen ein. Sie erschien in einem schäbigen Anorak und zog ihn nicht aus, weil sie darunter nichts Vorzeigbares trug. Sie muß in großer Armut gelebt haben in dieser Wohnung in einer Tag und Nacht befahrenen Durchzugsstraße. Jemand schenkte ihr weiße Gartenmöbel aus Plastik, die sich übereinander stapeln ließen, sie schlief auf einer Matratze auf dem Boden. So lebte sie einige Jahre, einsam, für andere unerreichbar, mit weniger als dem Nötigsten. Irgendwann, als sie an die Achtzig ging, bekam sie ein Zimmer in einem betreuten Wohnheim und nach einer Krankheit zog sie sich völlig von der Gemeinde zurück, kam nur, um zu Pessach Mazze zu kaufen und wehrte jede angebotene Hilfe ab. Einmal sprach sie davon, daß sie auf dem jüdischen Friedhof in der Stadt begraben werden wolle, doch einige Monate vor ihrem Tod erschien sie im Sekretariat und erklärte, sie wolle nach ihrem Tod nach Israel überstellt werden.
Im letzten Frühjahr fanden wir ihre Todesanzeige in der Zeitung. Noch in derselben Woche wurde sie im Urnenfriedhof eingeäschert. Niemand hatte uns verständigt. Und so erfuhren wir es erst allmählich, daß sie in den Monaten ihrer zunehmenden Vereinsamung und Hilflosigkeit zum Christentum bekehrt worden war. Freunde Gottes nennen sich die Mitglieder der evangelikalen Sekte und glauben die Wiederkunft des Erlösers zu beschleunigen, wenn sie Juden missionierten. Sie sind gut vernetzt und finanzkräftig, spenden für Israel und sind dort gern gesehene Gäste, missionieren auch dort, überall, wo sie Juden finden, um sich auf Armageddon vorzubereiten, den letzten großen Kampf gegen den Antichrist, den finalen Holocaust, der die Shoah in den Schatten stellt, um am Ende, wenn der Tempelberg sich spaltet und ihr Erlöser erscheint, zu seiner Rechten zu sitzen, als die Gerechten, die Ihm die Abtrünnigen zugeführt haben. So hat es mir einer von ihnen erklärt und mir ein reich bebildertes Buch voll kindlich frommer Zeichnungen geschenkt. Sie mögen Freunde Gottes sein, aber Freunde der Juden sind sie nicht.
Wie verzweifelt muß diese Frau gewesen sein, um es zuzulassen, daß man ihr das ganze Leben stahl, alles, was sie gewesen war? In diesen letzten Monaten und Wochen tilgte die junge Frau, die sie voll Bekehrungseifer besuchte, ihre Kindheit in dieser Stadt, die Feste, die sie mit ihren Eltern gefeiert hatte, die Besuche im Tempel zu den Hohen Feiertagen mit den aschkenasischen Kantorengesängen, die sie liebte, die Maskeraden zu Purim, die Festtagsspeisen, die Freunde in den Jugendgruppen, alles, was diese Stadt einmal für sie bedeutet hatte. Sie annullierte den Grund, der sie mit fünfzehn Jahren zur Flucht gezwungen und so gründlich entwurzelt hatte, daß sie vielleicht ihr ganzes Leben lang keinen Ort mehr fand, an dem sie heimisch wurde. Sie nahm ihr auch die schlechten Erinnerungen, derentwegen sie ihr erwachsenes Leben zurückgelassen hatte.
Wer war Charlotte Cohen dann am Ende? In wenigen Monaten nimmt man keine neue Religion an, von der man achtzig Jahre lang nur wußte, daß ihre Mitglieder seit zweitausend Jahren Juden verfolgten. Was hat diese Studentin, die sich als trauernde Hinterbliebene bezeichnete, ihr versprochen? Was hat Charlotte Cohen bewogen, sich von ihrem Leben auf diese Weise abzuwenden? Die Todesnähe, der rapide Verfall der Kräfte, ihre Dankbarkeit für kleine Hilfeleistungen, für den Zuspruch, für die Zeit, die sich jemand für sie nahm in diesem fremd gewordenen Land? War die Verleugnung ihrer Zugehörigkeit der Preis, den sie für angemessen hielt als Ausdruck der Dankbarkeit? War ihr am Ende gleichgültig, als wer und wo sie begraben werden würde? Oder war es ihre Rache an einem Leben, das sie nie gewollt und am Ende zurückgelassen hatte?
Und was bewog die missionierende Studentin zu dieser Grausamkeit, diesem Diebstahl der Identität einer todkranken Frau? Welcher Raffinesse, welcher Taktiken bediente sie sich, ihr Urteilsvermögen zu verwirren, vielleicht in dem ehrlichen Wahn, ihre eigene oder Charlottes Seele zu retten? Es sei eine freiwillige Bekehrung gewesen, verteidigte sie sich später. Auch unter Folter kommen freiwillige Geständnisse zustande. Charlotte hatte keine Gelegenheit zu widerrufen. Warum hätte sich ein Mensch, der sich von der Religion abgewandt hatte, der alles Fromme haßte, im Angesicht des Todes zu einer Frömmelei bekehren sollen, die ihr fremd war und ihr in der Unvernunft der Dogmen bizarr erscheinen mußte? War es die letzte Trotzreaktion auf die strenge Selbstgerechtigkeit eines frommen Ehemanns, die sie bewog, oder gab sie nach, weil sie keinen anderen Weg fand, die junge Frau zum Schweigen zu bringen?
Und worin bestand unsere Schuld? Ich erinnere mich kaum mehr an sie, ich habe kein einziges Gespräch mit ihr geführt. Weil sie kein Interesse zeigte, mit irgend jemandem zu reden? Es ist leicht, neugierig auf einen jungen Menschen zuzugehen, zu fragen, wer er sei, woher er komme, seine Pläne und seine Erwartungen an die Zukunft zu teilen, Anteil zu nehmen an seiner Begeisterung für ein Leben, in dem noch alle Möglichkeiten offenstehen. Und es ist leicht, sich von einem alten, vom Leben enttäuschten Menschen abzuwenden. Da ist nichts mehr hinzuzufügen. Mißglückte Unternehmungen, falsche Entscheidungen und Dinge, die ihren Lauf nehmen und ins Unglück führen, und wenn schon nicht ins Unglück, dann in Bahnen, die man so nicht gewollt hatte. Und am Ende schließen sich alle Türen und es ist müßig, darüber zu klagen. Vielleicht hatte sie mit dem Leben abgeschlossen und wollte nur ihre Kindheit wiederhaben, alles, was sich nicht zurückholen ließ. Unsere Meinung dazu brauchte sie nicht zu hören. Sie wich uns aus, sie sah weg, es gab dazu nichts zu sagen. Eine alte Frau, dann lassen wir sie eben in Ruhe, wenn sie nicht will. Vielleicht hätte sie gewollt, wenn jemand die richtige Frage gestellt, die richtigen Sätze gesagt hätte?
Wie man es dreht und wendet: wir haben versagt und wurden mitschuldig, daß man ihr im hohen Alter, kurz vor dem Tod, das ganze erlebte, erlittene Leben entwendete. Alles, was sie gewesen war von Kindheit an, durch gute und schlechte Zeiten, ihre zweiundachtzig Lebensjahre als Jüdin. Waren sie ihr am Ende nur mehr ein Irrtum? Sie erlaubte diesen Eiferern eines fremden Glaubens, den schlimmsten Fluch des Judentums an ihr wahr zu machen: möge ihr Name ausgelöscht werden in Israel. Sie wurde christlich eingesegnet und verbrannt. Ihr christliches Begräbnis war eine Enteignung, ihre Einäscherung ein Frevel vor ihrer Religion. Man kann etwas ablegen, um etwas anderes anzunehmen, aber man muß es leben, um es sich anzueignen. Sie hatte ihren Glaubenswechsel nicht gelebt, er war eine Vergewaltigung. Ihre Kinder waren nicht zur Einäscherung erschienen, nur eine Enkelin, die kein Deutsch sprach. Sie sah die Sektenmitglieder mit ihren großen, goldenen Davidsternen um den Hals, sie muß gedacht haben, sie sei unter Juden. Gewiß wurde sie fromm umsorgt und freundlich behandelt, vermutlich haben sie ihr den Flug bezahlt, denn die Eltern seien arbeitslos, hatte Charlotte Cohen einmal erzählt, keinem der drei Kinder ginge es besonders gut.
Ein Geistlicher der Freikirche zelebrierte die Verabschiedung und las einen Fluchpsalm auf die Abtrünnigen, die den Herrn nicht anerkennen. Ihr Tod war ihnen ein gerechter Anlaß, alles zu verfluchen, was sie einmal geliebt hatte, ihre Eltern, ihre Kinder, ihr Volk, alles, woran sie ein Leben lang geglaubt hatte. So vernichteten sie ein letztes Mal ihr Leben. Was man ihrem Andenken zufügte, war nichts Geringeres als Störung der Totenruhe. Niemand hat für Charlotte Cohen Kaddisch gesagt, niemand hat die Totengebete oder den tröstlichen Psalm 23 gesprochen: … Und wandere ich im Tal der Todesschatten, ich fürchte kein Übel, denn du bist bei mir. Keiner von uns weiß, wo ihre Urne steht, niemand legt einen Stein auf ihr Grab.
Es gab keinen Protest. Die Freunde Gottes werden von den Vertretern Israels nach wie vor freundlich empfangen und ihre Spenden werden dankend angenommen. Sie gehen in den Synagogen aus und ein, um die Schwachen auszusondern, zu isolieren und sie mit ihren Bekehrungsgesprächen zu quälen. Am Ende der Zeiten, die sie mit großem Glaubenseifer herbeibeten, darf es keine Juden mehr geben. Sie werden vernichtet oder bekehrt werden.
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