Robert Musil, Virginia Woolf:
Der Mann ohne Eigenschaften, Mrs. Dalloway
Ich werde sieben, acht Jahre alt gewesen sein, als ich in unserem Wohnzimmer auf eine Sonderausgabe von Jean Renoir Buchs Mein Vater Auguste Renoir stieß. Fasziniert hat mich das Buch vor allem wegen der auf hochwertigem Papier gedruckten Illustrationen. Die Bilder haben mich dazu bewegt, den Text zu lesen, in dem ich zum ersten Mal etwas über Malerei, Paris und das Leben der Bohème erfuhr. Ein erster, zarter Wunsch war geweckt. Einiges hat hier seinen Ausgang genommen, nicht zuletzt meine Vorliebe fürs geradezu heikle Ineinander von Text und Bild. Auch die frühe Vorliebe für Stimmungen und Atmosphären in Filmen, Büchern und Bildern hat sich erhalten. Kein Wunder, dass mich Robert Musils Texte interessiert haben. Ich habe zuerst die Verwirrungen des Zöglings Törleß gelesen, in dem ich einiges von dem wiedererkannt habe, dem ich selbst mit dreizehn in meiner zum Glück kurzen Zeit im Internat begegnet bin. Mit sechzehn habe ich mich dann zum ersten Mal an den Mann ohne Eigenschaften gewagt. Musil ist besessen von atmosphärischen Bildern, spannungsgeladenen Stillleben aus Sprache, die eine Symbiose gegensätzlicher Vorgänge bewerkstelligen sollen: Reflexion und Deskription, Diagnose und Sinneseindruck, Mystik und Mathematik, Ich und Es. Das führt zu brillanten, prätentiösen, punktgenauen, weitschweifenden und in den gelungensten Passagen das Bewusstsein erweiternden Leseeindrücken. Mich hat dieser Ansatz immer fasziniert, egal, ob er Fragment bleibt oder in jeder Hinsicht zum Maßlosen tendiert. Musil konnte mit dem Mann ohne Eigenschaften kein Ende finden. Ebenso ging es Roberto Bolaño mit 2666. Auch David Foster Wallace hätte im Grunde ewig an Infinite Jest weiterschreiben können. Sie alle taten sich schwer, loszulassen und abzuschließen, wie Virginia Woolf, die die Abendgesellschaft in Mrs. Dalloway im Grunde auch noch lange hätte weiterlaufen lassen können. Sie hat sich jedoch dazu entschlossen, Mrs. Dalloway zum unentwirrbaren Geflecht zwischen sinnlich erfahrbaren und sichtbaren Gesten, Haltungen, Mimiken, Frisuren, Kleidern, Tellern, Blumen und den verborgenen Gedanken der Menschen zu machen, während Die Wellen ihr Buch der ausgesprochenen Worte und Widerworte wurde.
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Harold Brodkey, Michel de Montaigne:
Nahezu klassische Stories, Essais
Ich persönlich neige eher zum Abschließen (irgendwann, wenigstens …), weshalb mir die „Nahezu klassischen Storys“ von Harold Brodkey mehr entsprechen als sein ausufernder Roman Die flüchtige Seele. Brodkey versucht retrospektiv, den unausgesprochenen und teils unaussprechlichen Empfindungen seines Alter Egos Wiley Ausdruck zu verleihen bis hin zu Momenten frühkindlicher Sexualität oder dem Vorgang seiner Geburt. Das Ausufernde dieser Werke hat nur auf den ersten Blick mit Quantität zu tun. Es ist lediglich eine Frage des Temperaments und der Lebensumstände, ob sie über tausend Seiten haben oder immer wieder von Neuem begonnene Versuche geblieben sind. Eine Ursache ihrer existenziellen Unabschließbarkeit benennt einer ihrer herausragenden Vertreter, Montaigne, in seinen Essais: „Ich finde es nicht nur schwer, unsere Handlungen aneinanderzureihen, sondern auch, eine jede für sich selbst durch eine Haupteigenschaft zu bezeichnen. So zweideutig und vielfarbig erscheinen sie in verschiedenem Licht.“ Das hat unweigerlich Folgen nicht nur für den Blick auf andere, sondern auch auf sich selbst. „Je mehr ich mit mir umgehe und mich kennen lerne, desto mehr verwundert mich meine Ungestalt“.
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Virginie Despentes, Honoré de Balzac, Michel Houellebecq:
Vernon Subutex, Die menschliche Komödie, Ausweitung der Kampfzone
Virginie Despentes hat in Vernon Subutex auf über tausend Seiten ein Panorama des Lebens der in die Jahre gekommenen, gebildeten französischen Mittelschicht entworfen, die sich von den Idealen ihrer Jugend verabschiedet hat und sich gleichzeitig mit dem Altwerden und den aktuellen Verhältnissen nur schwer abfinden kann, teilweise daran schon gescheitert ist. Es sind punktgenaue Skizzen, die Despentes im Gegensatz zu Musil nicht zu großartigen Ensembles aufbläst. Man hat ihren Roman mit Balzacs Menschlicher Komödie verglichen, was insofern stimmt, als dass sich Balzac gerne einzelnen Merkmalen (Besitz, Herkunft, Physiognomie) widmet, um mannigfaltige persönliche und gesellschaftliche Verstrickungen daraus abzuleiten. Allerdings ist Balzac eine Art literarischer
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