MICHAEL BRAUN „Ich lebe am Rand. Nichts von der Strömung, die soll mich verschonen.“ Die hier am Rand bleiben will, ist die Dichterin Ilse Aichinger. Ilse Aichinger ist die letzte lebende Zeugin der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Im fernen Jahr 1952 hat sie einen legendären Literaturpreis erhalten, den Preis der Gruppe 47 für ihr Prosastück Spiegelgeschichte. 64 Jahre ist das her, bald wird Ilse Aichinger ihren 95. Geburtstag feiern können. Sie waren vor Kurzem in Wien und haben dort die Wege, die Lebenswelten der Ilse Aichinger erkundet, die in ihren Texten auch aufscheinen. Wie geht es der Dichterin heute, in ihrem 95. Lebensjahr?
SIMONE FÄSSLER Ich war in Wien, ich bin die Lebenswege von Ilse Aichinger gegangen, ich habe die Autorin aber nicht besucht. Ich bin mehrfach an ihrem Haus vorbeigelaufen, vor dem es neu ein winziges Espresso-Café gibt. Ich würde sagen, heute ist Ilse Aichinger nicht am Rand, sie lebt ja mitten in Wien, mitten im ersten Bezirk. Da hat sie seit einiger Zeit eine neue Art des Schweigens gewählt, sie spricht nur noch mit den Pflegerinnen, die sie gerne mag, und mit den anderen Leuten nicht mehr.
BRAUN „Ich bleibe am Rand.“ Das ist vielleicht keine topografische Markierung, aber eine existenzielle. Seit ihr Roman Die größere Hoffnung erschien, war das doch ihr Standort – am Rand einer literarischen Welt, die ganz anders spricht. Die mitteilungsfreudig ist, die üppige Metaphoriken entwickelt. Dies alles möchte Ilse Aichinger nicht, wenn ich ihr Werk richtig verstehe …
FÄSSLER Ich denke schon, dass sie sich davon immer abgesetzt hat, dass sie anders sprechen wollte, dass sie vom Rand her sprechen wollte. Wenn Sie jetzt aber Die Größere Hoffnung erwähnen, dann muss ich einwenden, dass in diesem Roman nicht nur der Rand, sondern auch die Mitte eine große Bedeutung haben. Der Weg des Kindes, der Weg von Ellen, die da durch Wien läuft, durch diese hier nicht benannte Stadt, die ganz deutlich Wien ist, der zielt auf dem Umweg über die Peripherie auf die Mitte, die Stadtmitte, wo der Roman beginnt und endet.
BRAUN Die größere Hoffnung, dieses erste Buch, reflektiert ja auch auf den Lebensweg der Ilse Aichinger, auf dem sie von Kind an die Erfahrung einer Bedrohung durch die Nationalsozialisten machen musste. Sie galt ja in der Nomenklatur der Nationalsozialisten als „Halbjüdin“, ihre Großmutter wurde umgebracht in einem Vernichtungslager in Minsk. Das ist eine Urszene ihres Schreibens gewesen. Aber vielleicht hat das auch etwas zu tun mit ihrem Verhältnis zur Sprache – diese Erfahrung, dass ihre Großmutter umgebracht wurde.
FÄSSLER Unbedingt. Ilse Aichingers Schreiben geht hervor aus der Erfahrung der Trennung. Und das nicht nur bildlich gesprochen, sondern auch ganz konkret. Das hab ich gerade neulich gesehen, als ich zum ersten Mal die Korrespondenz las, die sie geführt hat mit ihrer Zwillingsschwester, die 1939 noch ausreisen konnte nach England und mit der sie anfänglich noch Briefe austauschen konnte. Erst richtige Briefe, dann nur noch Rot-Kreuz-Telegramme mit einer sehr beschränkten Wortzahl. Schon hier sieht man: Es geht Ilse Aichinger beim Schreiben darum, eine Trennung zu überbrücken. Eine Trennung nicht von irgendeinem Menschen, sondern von ihrem Alter Ego, mit dem sie in ihrem bisherigen Leben immer zusammen war – Ilse und ihre Schwester Helga sind eineiige Zwillinge. Sie versucht die Trennung für Momente aufzuheben, indem sie Dinge beschwört, die sie gemeinsam erlebt haben. Die Trennung von der Zwillingsschwester war eine Trennung für zehn Jahre, aber doch immerhin nur eine Trennung auf Zeit. Hinzu kam dann die Trennung von ihren Verwandten, die deportiert und ermordet wurden in Minsk: ihre jüdische Großmutter, ihre liebste Tante. Von dieser Trennung ausgehend hat Ilse Aichinger ihren ersten Roman geschrieben und auch alle weiteren Texte.
BRAUN Sie haben in Ihren Aufsätzen und Nachworten zu Ilse Aichinger immer wieder darauf hingewiesen, dass es mehrere Phasen in ihrem Werk gibt. Bestimmte Phasen, in denen sie zum Teil nicht geschrieben hat. Von 1979 bis 1999 gibt es eine Phase, in der sie vollkommen geschwiegen hat. Und dann plötzlich, im hohen Alter, fängt Ilse Aichinger wieder an zu schreiben. Und diese Texte haben Sie dann herausgegeben. Wie kam es denn nach diesem langen Schweigen bis 1999 wieder zu dem Entschluss: Ich schreibe jetzt doch wieder etwas auf.
FÄSSLER Ich glaube, in ihrem eigenen Bewusstsein hat Ilse Aichinger nie aufgehört zu schreiben. Das hat sie auch immer wieder betont: Ich bin nicht verstummt, es sind nur die Abstände bis zum nächsten Text, die immer länger werden. Ob sie das mehr geglaubt hat oder mehr beschworen, das weiß ich nicht. Es war ein Warten, ein wahrscheinlich nicht frei gewähltes Warten. Was dann kam, was dann ein neues Schreiben ermöglichte, das waren verschiedene, auch äußere Umstände. Ein Umstand war, dass Ilse Aichinger nach Jahrzehnten in Deutschland sich entschieden hat, nach Wien zurückzukehren, wo sie ihre Jugend verbracht hat und ihr junges Erwachsenenleben, wo sie auch angefangen hat zu schreiben. Mit dieser Rückkehr hatte sie in den Straßen der Stadt auf einmal ihre frühe Zeit wieder vor Augen und damit auch die Erinnerungen. Ein großer Glücksfall war dann die Freundschaft mit Richard Reichensperger, der sehr viel von ihrem Werk verstand und auch persönlich gut mit ihr konnte. Richard Reichensperger, der selbst Literaturkritiker war, hatte Kontakt zu Zeitungen und Journalisten – und er vermittelte den Journalisten Kontakt zu Ilse Aichinger. Zu ihrem 70. Geburtstag gaben sich die Journalisten bei Ilse Aichinger die Klinke in die Hand, und sie war wohl selbst überrascht von sich, dass sie antworten kann, dass ihr dieses Antworten sogar Spaß macht. Witzigerweise spricht sie in diesen Interviews noch ganz viel vom Nicht-Schreiben und vom Schweigen und bemerkt gar nicht, dass sie beim Antworten wieder ins Texte-Verfassen gekommen ist.
BRAUN Das heißt doch: Das Schweigen war insofern keines, als in der Zeit, da keine Bücher von ihr erscheinen, Interviews gegeben werden, die immer sehr existenzieller Natur gewesen sind. Kommen wir mal zu einer Textform der späten Werke. Unglaubwürdige Reisen heißt ein Buch von Ilse Aichinger, das Sie herausgegeben haben, das Kolumnen versammelt. Das heißt: Im Alter von 80 Jahren hat Ilse Aichinger wieder angefangen, Kolumnen für eine österreichische Tageszeitung zu schreiben. Die Kolumnen beginnen so: „Wenn einer eine Reise tut, so hat er nichts zu erzählen.“ Das ist auch ein Statement. Eine Verweigerung einer Erzählung …
FÄSSLER Genau. Erst hat sie über ein Jahr das Journal des Verschwindens geschrieben, und als das ausgereizt war als Versuchsanordnung, hat sie die Unglaubwürdigen Reisen begonnen. Sie hat gesagt: Mein Muster sind Reiseführer, Reiseberichte, aber ich mache das anders. Ich gehe nicht in exotische Länder, sondern ich bleibe bei mir. Die, die möglichst weit weg gehen, die haben eh nichts zu erzählen. Zu erzählen hat man etwas, wenn man immer die gleichen Wege geht. Dieses Immer-die-gleichen-Wege-Gehen, das öffnet meine Wahrnehmung, das ermöglicht mir, die Dinge immer neu und anders zu sehen. Und das öffnet, vor allem wenn es Wege sind, die ich schon früher gegangen bin, Wege auch in die Erinnerung und in die eigene Biografie.
BRAUN Sie erwähnen dieses Elementare: Ilse Aichinger ist immer die gleichen Wege gegangen, diese Lebenswege durch die Straßen und Gassen Wiens. Das Topografische spielt für sie offenbar eine große Rolle. Wie sieht es da in Aichingers Werk aus? Ist das eine Konstante in ihrem Werk von 1948 bis 2005 – diese topografische Markierung?
FÄSSLER Ja. Die allerersten Texte, die es von Ilse Aichinger gibt, machen genau das: Sie gehen durch Straßen, durch die sie oft schon gegangen ist, auf der Suche nach der Vergegenwärtigung von Ereignissen und Erlebnissen, die sie da früher gehabt hat. Das versucht sie dann auch in der Größeren Hoffnung, wo sie nur auf keine Weise sagen möchte, dass es sich um dieses Wien handelt. Das hat wohl damit zu tun, dass sie in diesem frühen Roman den Anspruch hat, ganz allgemeingültige Aussagen zu machen. Und dass sie vielleicht Angst hat, zu persönlich zu werden. Die topografische Markierung gibt es dann weniger in den sehr abstrakten Texten der sechziger, siebziger Jahre, die ja auch nicht in Wien entstanden sind, sondern in Oberbayern, wo Ilse Aichinger mit ihrer Familie lange gelebt hat. Auch diese Texte sind immer im Raum gedacht, aber sie haben keine Bodenhaftung in einer konkreten Topografie. Wie sie dann nach Wien zurückkam, wurde das Topografische wieder ganz wichtig. Die Texte des Spätwerks sind ganz anders als die frühen. Über die Topografie kommunizieren sie aber miteinander. Die späteren Texte erinnern, kommentieren und kontern die frühen.
BRAUN Ich komme zu einem ganz anderen Ort, der nicht in Österreich liegt. Er heißt „Dover“. Das ist ein Ort, der nach meinem Endruck sehr oft aufgerufen wird bei Ilse Aichinger. Vor allem in ihrem Buch Schlechte Wörter von 1976. Da muss man hier schon nach der Gattung fragen: Ist das ein Prosagedicht, sind das Erzählungen, sind es Textverweigerungstexte? Wie würden Sie denn die Gattung der Texte des Bandes Schlechte Wörter beschreiben?
FÄSSLER Eine schwierige Frage. Ilse Aichingers Texte sind immer Vollzug einer Bewegung, einer Bewegung im Raum. Und immer, wenn sie ein Muster gefunden hat, in dem sie eine Bewegung vollziehen kann, dann war für sie eine neue Textgattung definiert. Sie hat dann – das sieht man an ihrer Werkgenese – in kurzer Folge viele Texte der gleichen Gattung geschrieben. Sowie ein Muster ausgereizt war, war Schluss. Und Ilse Aichinger hat nach der nächsten Form gesucht. Ich glaube, man kann die Texte im Band Schlechte Wörter mehr als eine Weise definieren, sich in der Sprache und im Raum oder mit der Sprache im Raum zu bewegen, als dass man sie einer Gattung zuordnen kann. Wenn man den Sprachgebrauch ansieht, dann haben diese Texte viel mit Lyrik zu tun. Gleichzeitig tendieren sie aber auch zum Erzählen. Und sie tendieren zur Mündlichkeit. Also sind es vielleicht sogar in einer gewissen Weise dramatische Texte?
BRAUN Ich lese einfach mal den Anfang des Textes „Dover“, den man in Ilse Aichingers Band Schlechte Wörter findet. „Wult wäre besser als Welt. Weniger brauchbar, weniger geschickt. Arde wäre besser als Erde. Aber jetzt ist es so. Normandie heißt Normandie und nicht anders. Das Übrige ist eingestellt. Aufeinander, wie man sagt. Und wie man auch sieht. Und wie man auch nicht sieht. Nur Dover ist nicht zu verbessern.“ Ich finde es ganz fantastisch. Es gibt hier immer so Wortentzündungen an bestimmten Ortsnamen. Und es gibt auch Aufsätze, in denen „Dover“ und die Nachsilbe „ver-“ genau untersucht werden. Was hat es denn mit „Dover“ oder dieser Silbe „ver-“ auf sich, was ist daran so geheimnisvoll?
FÄSSLER Ja, das „Ver-“ gefällt der Ilse Aichinger. Sie hat ein sehr eigenes, sehr persönliches Verhältnis zu vielen Wörtern. Zwar hat sie ihre grundsätzliche Skepsis allen Wörtern gegenüber. Aber es gibt auch Wörter, denen sie viel zutraut. „Dover“ ist eines davon. Und das „Ver-“ mag sie sehr gerne. Mit „Ver-“ beginnt auch „Verschwinden“, der zentrale Begriff im Spätwerk. Das „Ver-“ hat etwas Dynamisches, es verweist beispielsweise auch auf das „Ver-gängliche“, was Ilse Aichinger an der Sprache gefällt. Ein Journalist hat sie mal gefragt – „Sie sind ja jetzt berühmt?“. Darauf hat sie nicht gesagt: Nein, ich bin nicht berühmt. Sie hat gesagt: Das Wort „berühmt“ gefällt mir nicht, denn es hat die falsche Vorsilbe. „Ver-“, das gefällt mir, aber das „be-“, das hat so etwas Behaftendes. Es ist ein Wort, das mich festschreibt. Das mag ich nicht.
BRAUN Sie haben das Wort „Verschwinden“ schon genannt, das soll nun unser Thema sein. Und Sie haben da auch eine Unterscheidung getroffen. Es gibt eine Phase, in der sich Ilse Aichinger sehr auf die Kategorie „Schweigen“ bezieht. Und dann haben Sie in Ihrem Aufsatz „Das Etikett ‚Schweigen‘“ sehr genau ausgeführt, dass irgendwann diese Phase auch zu Ende gegangen ist. Und dass dann eine Phase einsetzt, in der Ilse Aichinger das Verschwinden in den Vordergrund stellt. Können Sie versuchen, diese beiden Phasen zu beschreiben und voneinander abzugrenzen?
FÄSSLER Das Wort „Schweigen“ war unter den Autoren der fünfziger Jahre auch ein Code- und Modewort. Mit dem Schweigen wollten sie markieren, dass sie mit dem Gebrauch der Sprache grundsätzlich nicht einverstanden sind. Dass sie sich distanzieren von einem unreflektierten Sprachgebrauch. Und natürlich auch von einem Missbrauch der Sprache, wie ihn die Propaganda des Nationalsozialismus praktizierte. Dem haben die Autoren das Schweigen entgegengesetzt. Wobei Schweigen für diese Autoren nicht heißt, dass sie nichts sagen oder nicht schreiben. Ilse Aichinger hat gesagt, Schweigen, das ist die richtige Art, wie sie schreiben möchte. Schweigen, das ist auf eine Weise das Gegenteil vom Schreiben. Es ist ihm aber auch ganz nah, wie man auch lautlich hört: „Schweigen“ und „Schreiben“ klingt, zumal österreichisch ausgesprochen, sehr ähnlich. Ilse Aichinger sagt einerseits: In unserer Welt ist es schwierig geworden, überhaupt etwas zu sagen. Wir sind stumm geworden. Und die Welt ist auch stumm. Stumm und sinnlos. Wenn wir wieder sprechen wollen, dann müssen wir aber nicht versuchen, gegen diese Stummheit anzugehen, sondern wir müssen diese Stummheit akzeptieren und sozusagen bis zu ihrem Ende gehen. Denn dann kann es passieren, dass die Stummheit in ihr Gegenteil umschlägt. Und das wäre dann nicht eine sinnlose Stummheit, sondern ein Schweigen, das alles enthält. Das viel mehr enthält, als man mit einem Wort sagen kann. Dieser Idee geht Ilse Aichinger nach in ihrem Schreiben. Erst wortgewaltig, dann immer knapper. Dann schon auch stummer, indem sie immer weniger schreibt. So passiert es, dass dieses Schweigen zum Etikett wird, das sich die Leute, die über Ilse Aichinger schreiben, zuwerfen und auch gegenseitig abschreiben. Ilse Aichinger wird zur großen Schweigerin erklärt. Und zwar nicht in dem Sinne, wie Ilse Aichinger das ursprünglich gemeint hat, sondern in einem banaleren Sinn: Ilse Aichinger ist die Autorin, die nicht mehr schreibt und auch sehr wenig spricht. Was insofern naheliegend ist, als Aichinger wirklich kaum Stimme hatte. In den Interviews aus dieser Zeit spricht sie immer sehr leise, mit gebrechlicher Stimme, mit immer wieder versiegenden Sätzen. Als sie dann wieder anfängt zu sprechen, wird in diesen Interviews immer noch viel über das Schweigen gesprochen. Sie übernimmt dies noch eine Weile, bis ihr bewusst wird, dass mit dem Wort genau das passiert ist, wogegen sie sich mit dem Begriff gewendet hat. Er schreibt sie fest, er ist zum Etikett geworden. In diesem Moment beginnt Ilse Aichinger sich dann zu wehren: Die anderen reden vom Schweigen – aber ich, ich lasse mir nicht den Mund verbieten.
BRAUN Dann kommt das Verschwinden ins Spiel. Journal des Verschwindens ist eins der Bücher betitelt. Was hat es mit dem Verschwinden auf sich? Sie sagten vorhin, es handle sich um eine dynamischere Kategorie. Inwiefern?
FÄSSLER Das Verschwinden ist schon verwandt mit dem Schweigen, aber es ist ein viel dynamischeres Prinzip. Das Schweigen verharrt ja erstmal in Stille und wartet auf das Wort. In der Größeren Hoffnung steht der Satz: „Ellen wartete unerbittlich wie alles Schweigen immer auf das erfüllende Wort wartet.“ Das Verschwinden funktioniert umgekehrt. Aichinger sagt, sie wollte selbst schon immer nicht existieren, sie will verschwinden. Sie möchte das nachvollziehen, was ihre Angehörigen unfreiwillig getan haben, als sie ermordet wurden. Dabei wird ihr klar: Um verschwinden zu können, muss sie erst einmal Anlauf nehmen, muss ich erst einmal anwesend sein. Ganz konkret physisch-körperlich, im Leben, aber auch in der Sprache. Ihr Ziel ist das Verschwinden. Aber das erreicht sie nur über das Sprechen, über das Schreiben. Jede ihrer Kolumnen im Spätwerk ist ein neuer Anlauf dazu.
BRAUN Mich interessieren mögliche Parallelen zwischen der Poetik von Ilse Aichinger und ihrem Ehemann Günter Eich. Bei dem Verschwinden gibt es doch sicherlich Parallelstellen, wenn es in einem Gedicht von Günter Eich heißt: „Nur keine Spuren hinterlassen.“ Das ist natürlich paradox, denn es ist ja aufgeschrieben in einem Gedicht. Aber sicher ähnlich der Kategorie des Verschwindens bei Ilse Aichinger.
FÄSSLER Das ist eine Paradoxie. Oder auch nicht, weil das Verschwinden ja die Anwesenheit voraussetzt und sich von da aus erst vollziehen kann. Im Spätwerk ist das Bild, das Aichinger immer vor Augen hat, wenn sie vom Verschwinden spricht, ihr täglich praktiziertes Ins-Kino-Gehen. Denn im Kinogehen kann sie verschwinden, indem sie sich in den verdunkelten Raum setzt. Solange der Film läuft, ist sie nicht da.
BRAUN Ich glaube, in den Unglaubwürdigen Reisen spricht sie davon, sie gehe viermal am Tag ins Kino, um sich selbst zum Verschwinden zu bringen und um die Zeit ihrer nichtswürdigen Existenz zu gestalten …
FÄSSLER Ja, sie sagt: Endlich habe ich eine Möglichkeit gefunden, meinen verschwundenen, ermordeten Angehörigen zu folgen – wenn auch nur stümperhaft: Ich gehe ins Kino. Noch mehr macht sie es, indem sie schreibt. Indem sie nach dem Kino das Erlebnis des Verschwindens noch einmal nachvollzieht, im Café sitzend, schreibend auf ihren fliegenden Zetteln.
BRAUN Nochmal zurück zum Band Schlechte Wörter. Das Titelstück setzt ein: „Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr. Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.“ Und später dann: „Ich beginne eine Schwäche für das Zweit- und das Drittbessere zu bekommen … Niemand kann von mir verlangen, dass ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind.“ Das sind mehrfache Verweigerungshaltungen. Erstens geht man stereotyp davon aus, dass Literatur „die besseren Wörter“ gebraucht. Und die zweite Verweigerung betrifft das Herstellen von Zusammenhängen. Ein Geschichtenerzähler strebt für gewöhnlich nach Zusammenhängen. Und das ist doch ein sehr ambitioniertes Konzept, all diese Dinge zu verweigern. Ist das eine Poetik der Verweigerung?
FÄSSLER Ja, das ist ein Versuch, das Sprechen zu befreien von allen Aufgaben, die es im Alltag haben kann. Ilse Aichinger stellt hier einen Gegensatz her zwischen einerseits dem Gerede und andererseits dem Sprechen als ästhetischem Sprechen.
BRAUN Mich interessiert auch sehr, wie das Werk von Ilse Aichinger und Günter Eich korrespondiert. Gibt es denn explizite Bezugnahmen der beiden in ihren Werken aufeinander?
FÄSSLER Soviel ich weiß, gibt es bei ihr Nennungen, explizite Bezugnahmen und Zitate erst im Spätwerk. Wenn sie zum Beispiel nach einem Ausgangspunkt sucht für ihre Texte, dann fällt ihr ein Zitat ein von ihrem Mann, dann entdeckte sie beim Blättern in einem seiner Bücher einen Satz, den sie zitiert und davon ausgehend weiterschreibt. In der Zeit, in der Ilse Aichinger und Günter Eich zusammen gelebt und geschrieben haben, kann man sehen, dass sie sich mit den gleichen Themen auseinandergesetzt haben. Gerade poetologische Aussagen sind sehr ähnlich. Wie sie diese dann umsetzen, da gibt es größere Unterschiede. Ein Beispiel einer ganz untergründigen Zusammenarbeit fällt mir ein. Es gibt ja von Günter Eich die berühmten Texte „Maulwürfe“. Dieser Titel, der stammt von Ilse Aichinger. Bei Ilse Aichinger gibt’s ihn im gedruckten Werk nicht. Er war für sie aber mal eine Gattungsbezeichnung für kleine Texte. Die Kurzprosa, die heute Kurzschlüsse, Wien heißt, hatte sie ursprünglich mal „Maulwürfe“ genannt. Der Titel ist auch sehr Aichinger-spezifisch: Indem die „Maulwürfe“ ihre Wege mit Hügeln markieren, zeichnen sie sie in die Topografie ein. In der Familie Eich-Aichinger war „Maulwürfe“ eine Gattungsbezeichnung für kurze Prosa. In Günter Eichs Werk ist sie dann auch als Gattungsbezeichnung veröffentlicht worden.
BRAUN Bei Günter Eich gibt es die extremen Kurzformen des Gedichts, die „17 Formeln“, in denen die Verse minimalistisch verknappt sind auf einzelne kryptische Wörter wie „Fischbeinschwäche“ oder „Hortisilur“. Gibt es einen solchen Minimalismus auch bei Ilse Aichinger?
FÄSSLER Ja, das gibt es auch. Zum Beispiel in den Aufzeichnungen, die in Kleist, Moos, Fasane (1985) versammelt sind, wo sie Gedanken in knappen Sätzen formuliert. Ich stelle mir vor, die sind ihr ein- oder zugefallen im Alltag. Wenn man das jetzt in gesammelter Form anschaut und durchblättert von Jahr zu Jahr, dann fällt auf, dass es immer weniger wird. Es gibt Jahre, da ist gar nichts mehr und man kann sich nicht vorstellen, wie es weitergeht. Bei Paul Celan und Ingeborg Bachmann, Aichingers literarischen Weggefährten, war dieses Verstummen auch der Endpunkt, sie sind beide in den frühen 70er-Jahren gestorben. Wie anders ist das bei Aichinger: In ihrem Spätwerk eröffnet sich noch einmal eine ganz andere Perspektive.