Die Literatur beginnt mit dem Ende, das allein das Verstehen ermöglicht. Um sprechen zu können, müssen wir den Tod erblicken, ihn hinter uns sehen.
— Maurice Blanchot
In die Geschichte ist der unscheinbare Mann nicht eingegangen, er hat sie in keiner Weise geprägt, ist bloß mitgelaufen, hat sich ihr perfekt angepasst, hat nie öffentliches Aufsehen erregt, weder positiv noch negativ, hat ihr ehrlich zugedient, sich gemütlich und beflissen in ihr eingerichtet, um schließlich unbescholten als Rentner sein Ende und einen würdigen Platz auf dem Friedhof zu finden. Auf eine (allerdings postume) „Bestenliste“ hat es der diskrete Russe dennoch geschafft: 2010 wurde er als der weltweit effizienteste Henker aller Zeiten („Most Prolific Executioner“) ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen – insgesamt 20.000 Menschen soll er als „Kommissar für besondere Aufgaben“ unter Stalins Regime eigenhändig umgebracht haben. Nie wurde er dafür offiziell zur Rechenschaft gezogen. Noch heute werden auf seiner Grabstätte in Moskau Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet.
Bei dem solcherart „Ausgezeichneten“ handelt es sich um Wassilij Blochin, Jahrgang 1895, Sohn eines Kleinbauern, von Beruf Maurer, im Ersten Weltkrieg Soldat, dann Unteroffizier; ab 1921 während Jahrzehnten Mitarbeiter der sowjetischen Geheimdienste Tscheka, OGPU, NKWD und KGB; seit 1924 als Kommandant, später als Kommissar zuständig für die Hinrichtung „politischer“ Gefangener, die von „Revolutionsgerichten“ als angebliche Agenten, Spione, Verräter, Deserteure, Volksfeinde verurteilt worden waren. Zur Zeit des Großen Terrors wurden unter Blochins Aufsicht und mit seiner persönlichen Beteiligung Hunderttausende exekutiert, mehrheitlich Kommunisten, die meisten anhand von konstruierten Anklagen oder erzwungenen Geständnissen. Zu den Opfern gehörten nebst einfachen Parteigenossen zunehmend auch Führungskader, durch die Stalin seine Machtfülle eingeschränkt oder bedroht sah – darunter nicht zuletzt Leute, die ihrerseits aktiv am Staatsterror beteiligt waren, bevor sie selbst zu Opfern wurden.
Was bei Rothmann völlig ausgeblendet bleibt, ist Babels eigene Nähe zum stalinistischen Gewaltregime.
Vor den massenhaften, mit staunenswerter Akribie dokumentierten „Säuberungen“ blieben selbst die vermeintlich allmächtigen Spitzenfunktionäre der Geheimdienste nicht verschont: Als Kommandant der zentralen geheimdienstlichen Haftanstalt in Moskau hat Blochin nicht nur Tausende von engagierten Kommunisten und ergebenen Zuarbeitern Stalins persönlich zu Tode gebracht, sondern auch führende Generäle der Roten Armee, hochrangige Partei- und Regierungsmitglieder sowie seine obersten Vorgesetzten Jagoda und Jeshow, die den Großen Terror in Stalins Auftrag organisiert hatten. Unterstützt wurde Blochin von einem Erschießungskommando (Spezgruppa), mit dem zusammen er phasenweise mehrere Hundert Verurteilte pro Nacht durch Nackenschuss liquidierte. Bei den Erschießungen trug er eine eigens angefertigte Uniform mit Stulpen, Stiefeln und Kappe, alles aus imprägniertem Ziegenleder, um das reichlich verspritzte Blut abfließen zu lassen.
Dass Blochin auch manche seiner Dienstkollegen und persönlichen Freunde auf diese Weise umbringen musste, scheint ihn nicht belastet zu haben – seine Stärke war der Gleichmut, war die Tatsache, dass er alles und alle ohne Skrupel für „gleich“ halten konnte: Ob er einen Marschall, einen Parteisekretär, einen Volkskommissar oder einen Literaten hinrichten musste, war ihm egal – er hätte auch den Genossen Stalin hingerichtet, falls er dazu von einem noch mächtigeren Dienstchef aufgefordert worden wäre. Auch seinen umfangmäßig größten Einsatz, die Liquidierung von 6287 polnischen Kriegsgefangenen im Frühjahr 1940, führte Blochin zu großen Teilen im Alleingang durch, dies unter Verwendung von deutschen (also „feindlichen“) Präzisionspistolen des Typs Walther, die sich bei Dauerfeuer weniger schnell erhitzten als vergleichbare sowjetische Waffen.
Blochin war vorsichtig genug, keinerlei Papiere, weder offizielle noch private, zu hinterlassen, die aktuell oder auch bloß nachträglich seine vierunddreißigjährige Exekutionskarriere hätten kompromittieren können. Als einzige Dokumente sind von ihm Tausende von Unterschriften erhalten geblieben, mit denen er seine Hinrichtungen kommentarlos bestätigte, dazu ein Dutzend Orden und Ehrenzeichen für besondere Verdienste. Unklar bleibt, ob er im Februar 1955, als unter Stalins Nachfolgern das „Tauwetter“ und damit das Ende des Terrors einsetzte, eines natürlichen Todes oder durch eigene Hand starb; er wurde sechzig Jahre alt.
II
Die viel beredete „Banalität des Bösen“ findet in Wassilij Blochin ihre exemplarische Verkörperung; doch anders als der Schreibtischtäter Adolf Eichmann und andere NS-Kommandanten, die wohl persönlich nie jemanden umgebracht haben und deshalb als „banale“ Bösewichte gelten, war Blochin – abseits der Planungsbüros und Folterkeller – ausschließlich als Auftragsmörder tätig, als williger Vollstrecker, als sachkundiger und verlässlicher Henkersknecht, und in dieser exzentrischen Rolle bietet er die ideale Vorgabe für eine literarische Ausarbeitung, ideal schon deshalb, weil über ihn persönlich (außer Opferzahlen und Diensträngen) faktisch kaum etwas bekannt ist, mithin also manches, fast alles zu imaginieren bleibt.
Mit der Titelerzählung seiner jüngsten Prosasammlung, Hotel der Schlaflosen (siehe Vorabdruck in VOLLTEXT 3/2020), unternimmt nun Ralf Rothmann den riskanten Versuch, den historisch beglaubigten Massenmörder als fiktive Erzählfigur – und dies in der Funktion des Icherzählers! – vorzuführen. Ein ebenso attraktives wie anspruchsvolles Unterfangen, da bei der Rekonstruktion der historischen „Wahrheit“ ein Minimum an Fakten ein Maximum an Einbildungskraft erfordert, bei gleichzeitiger Wahrung von dokumentarischer wie von psychologischer, zeitgeschichtlicher und narrativer Glaubwürdigkeit.
Mehr als 5.000 literarische Titel unliebsamer Autoren kamen auf den offiziellen Index verbotener Bücher, Millionen von Einzelexemplaren wurden physisch vernichtet – es war der größte Bibliozid aller Zeiten.
Rothmann versucht seinem singulären, äußerst schwer fassbaren Protagonisten näherzukommen, indem er ihn auf ganz unterschiedliche Weise mit zwei seiner zufälligen Opfer konfrontiert, einem trotzkistischen Abweichler ohne Rang und Namen und dem weithin bekannten Schriftsteller Isaak Babel. Mit beiden macht sich Blochin, im ungetrübten Bewusstsein seiner Macht über Leben und Tod, einen mörderischen Jux, und in beiden Fällen tut er es mit unaufwändigem Zynismus, herablassend und zielführend. Den unbedarften Genossen vom Dorf empfängt er zur Abwechslung nicht in seiner professionellen Schlachtermontur, sondern in gewöhnlicher Wärtertracht; er verwickelt ihn in ein absurdes „familiäres“ Gespräch, behauptet, sein Schwager zu sein, und lässt damit eine fast schon enthusiastische Überlebenshoffnung in ihm aufkeimen, um ihn dann doch mit vorgehaltener Pistole in den Hinrichtungskeller beziehungsweise „hinaus“ in die Freiheit zu führen.
Isaak Babel, damals sechsundvierzig Jahre alt, wird nach langer Haftzeit und schwerster Folter am 27. Januar 1940 als „blutige Zitrone“ zur Liquidierung in den Keller gebracht. Auch mit ihm treibt Blochin sein diabolisches Spiel, lässt ihn
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