Als ich unlängst in der Zeitung las, dass in Israels Schulen gerade ein Buch verboten worden war, das von der Liebe einer israelischen Jüdin zu einem Palästinenser handelt, musste ich wieder an das Gespräch denken, das ich fast genau ein Jahr davor mit einem nicht mehr jungen Mann am Grab von Mahmud Darwisch in Ramallah geführt hatte.
Ich war von Jerusalem in die Westbank gefahren und, weil sich die Verabredung, die ich dort hatte, um mehrere Stunden verschob und es in Ramallah nicht viel zu tun gab, zuerst zum Grab von Arafat und dann zu dem von Mahmud Darwisch gegangen. Es war nur knapp drei Wochen nach einem Anschlag in einer Synagoge in Jerusalem, bei dem vier Betende und ein Polizist ums Leben gekommen waren, und überall in den Straßen, durch die ich ging, hingen Plakate, auf denen die beiden (erschossenen) Attentäter als Märtyrer verherrlicht wurden. Das Mausoleum von Arafat steht auf dem Gelände seines ehemaligen Amtssitzes, der während der zweiten Intifada von der israelischen Armee lange belagert und schließlich halb zerstört worden war. Als ich dort ankam und auf den lichtdurchfluteten Kubus aus weißem Kalkstein zuging, war kein Mensch zu sehen, außer den zwei Uniformierten im Gardemaß mit Gold-Epauletten und Schärpen in den palästinensischen Nationalfarben um die Brust, die hinter dem Sarkophag standen und mich wiederholt zum Fotografieren aufforderten.
Ich wollte den an diesem Tag wie ausgestorben wirkenden Ort schon wieder verlassen, als vor dem Eingang zum Gelände ein Bus hielt, zwei Mädchenklassen ausstiegen und sich zu einer Marschkolonne formierten. Die einen trugen braune Mantelkleider, die anderen dunkelblaue Röcke und hellblaue Blusen, und als sie unter Aufsicht ihrer Lehrerinnen losmarschierten, angeführt von einer ganz in schwarz gekleideten Schülerin mit einem prächtig drapierten Palästinensertuch um den Hals und einer Fahne in den Händen, war ihr Skandieren weithin zu hören und, sobald ihre Stimmen nur einen Augenblick verstummten, das Klacken ihrer rhythmischen Schritte auf dem Steinboden. Ich verstand kein Wort, aber als sie vor dem Mausoleum stehenblieben, schrien sie zweimal laut „Allah“ und rissen ihre Arme nach vorn in die Höhe. Dann skandierten sie wieder los, ich konnte jetzt immerhin so etwas wie „Falastin“ und „Arab“ ausmachen, bevor sie sich für Erinnerungsfotos um den Sarkophag gruppierten, die Schwarzgekleidete mit ihrer Fahne sichtlich stolz zwischen den beiden Gardesoldaten. Es waren kaum zehn Minuten vergangen, als sie skandierend wieder davonstampften und von dem mit laufendem Motor wartenden Bus aufgenommen wurden. Sie waren zehn-, höchstens zwölfjährig, und ich hatte vergeblich versucht, wenigstens von einer von ihnen einen Blick aufzufangen, um vielleicht eine Ahnung davon zu bekommen, was in ihr vorging, aber keine hatte mir den Kopf zugewandt, keine auch nur zu verstehen gegeben, dass sie meine Anwesenheit überhaupt wahrnahm. Die Lehrerinnen waren so sehr mit der Überwachung beschäftigt, dass sie mich auch nicht beachteten, und wären nicht die Soldaten hinter dem Sarkophag gewesen, hätte ich genausogut nicht da sein können.
Ganz unter dem Eindruck dieses Schauspiels fragte ich mich dann zum Grab von Mahmud Darwisch durch. Wen auch immer ich auf der Straße um Auskunft bat, er wusste Bescheid, und so dauerte es nicht lange, bis ich den Hügel mit Blick auf Jerusalem erreicht hatte. Ich stieg den terrassierten Park zum Eingang des zugehörigen Museums hinauf und war nicht gefasst auf die Widmung, die dort in großen Lettern auf englisch und arabisch an der Wand prangte: „From Palestine … to Mahmoud Darwish.“ Seine Bücher hatten mich in den vergangenen Jahren begleitet, und natürlich ging es in ihnen um das Land Palästina, aber je mehr er sich in seinen späteren Werken vom direkten politischen Engagement und vom propagandistischen Agitieren entfernte, um so mehr auch um eine universelle Metapher, Palästina, die Kindheit, Palästina, das Verlorene: „Unfortunately, it was Paradise“, wie der Titel eines seiner Gedichtbände lautet.
Mahmud Darwisch war sieben Jahre alt, als er im Unabhängigkeitskrieg 1948 mit seiner Familie aus dem Norden Galiläas in den Libanon fliehen musste. Bei ihrer Rückkehr war ihr Dorf zerstört und ihr Status im sich formierenden Staat Israel der von sogenannten „present absentees“, also anwesenden Abwesenden, was eine vielsagende Wortschöpfung ist und in seiner Bedeutung am ehesten der von Exilierten im eigenen Land gleichkommt.
Hier aber nun – in seinem Museum – war Mahmud Darwisch, der für mich der paradigmatische Dichter des Exils war, endgültig zum Nationaldichter geworden, eine zwiespältige Feststellung, hier hatte ausgerechnet er, der sich dem Flüchtigen und Schwebenden verschrieben hatte, ein Monument, hier einen unzweifelhaft mit seiner Person verbundenen Namen, eine Identität, Begriffe, die er ein Leben lang problematisiert hatte. Reflexartig fiel mir die Stelle aus seinem Buch In the Presence of Absence ein, wo ein Du von einem Bildhauer gefragt wird, warum es keine Statue von sich wolle. „Because I want to keep moving, to reach out and shoo flies away from my face, to stick my tongue out, to put my feet down in the street.“ Und als der Bildhauer nicht lockerlässt, fährt das Du fort: „And I don‘t want anyone to break me. I am the one who does that.“
Es war mitten am Tag und auch hier kein Mensch zugegen. Ich wollte in das Museum gehen, aber an der Tür erfasste mich dasselbe Elend, von der Vergangenheit verschluckt zu werden, das mich schon vor vielen Museen am Eintreten gehindert hatte, und ich blieb im Eingangsbereich und blätterte eine Weile in den dort zum Verkauf angebotenen Büchern. Neben den meistens blumig aufgemachten arabischen Ausgaben, oft mit einem Foto des Autors auf dem Cover, fanden sich französische und englische, auffallenderweise keine deutschen, und ich las hier und dort eine Stelle. Bei der Kassa lag ein Stapel Kopien mit einem von Mahmud Darwischs berühmtesten Gedichten, „Identity Card“ von 1964, das mit den selbstbewussten Worten „Write down! I am an Arab“ beginnt und mit einer Beschwichtigung und gleichzeitigen Drohung endet. Ich nahm eines der Blätter, faltete es und steckte es in meine Jackentasche, als der Mann plötzlich neben mir stand und ganz selbstverständlich in einem grammatikalisch korrekten Gelehrtenenglisch mit starkem Akzent zu sprechen begann.
Er war eine hagere Erscheinung mit kaum mehr Haaren auf dem Kopf und hielt eine unangezündete Zigarette in der Hand. Ich hatte nicht wahrgenommen, ob er aus dem Inneren des Museums gekommen war oder von draußen eingetreten, aber seine Frage, ob ich mich für Mahmud Darwisch interessierte, konnte an dem Ort nur rhetorisch gemeint sein. Er war neugierig, was ich von ihm gelesen hätte, und ich zählte ein paar Titel auf und deutete auf die ausliegenden Bücher, und dann erkundigte er sich, was ich von Palästina hielte, was von Israel, und ich beantwortete die eine Frage höflich, die andere ausweichend. Ich schämte mich für meine anfängliche Abwehr, als ich merkte, dass er mir nichts verkaufen wollte und es ihm nur um das Gespräch ging.
Er fragte mich, woher ich käme, und wollte wissen, ob man Mahmud Darwisch in Deutschland kennen würde, und als ich verneinend sagte, vielleicht ein paar Spezialisten, meinte er, das sei ein Jammer, und ich stimmte ihm zu. Er zitierte einzelne Gedichtzeilen auf arabisch, wobei er die Augen schloss, und versuchte sich an einer englischen Übersetzung. Dann fragte er mich plötzlich, ob ich wisse, dass Mahmud Darwischs erste Liebe eine Jüdin gewesen sei. Ich konnte nicht hören, ob da ein Unterton mitschwang oder ob es nur eine Frage wie alle anderen war, aber als ich ja sagte, schien er mich zu mustern und auf einen Kommentar zu warten. Die jüdische Geliebte kam in mehreren Gedichten von Mahmud Darwisch vor, sie trug darin den Decknamen Rita, und das bekannteste Gedicht war „Rita and the Rifle“, das mit dem Satz „Between Rita and my eyes there is a rifle“ beginnt und endet. Ich fragte den Mann, ob er darauf anspiele, aber er antwortete nicht, und immer noch unschlüssig, worauf er hinauswollte, musste ich an die junge israelische Soldatin denken, die mehr als vier Jahre davor im Bus von Eilat nach Jerusalem neben mir gesessen war.
Sie war als eine der letzten eingestiegen und hatte sich mit ihrem schweren Rucksack und dem Gewehr mühsam durch den engen Gang bis in die hinterste Reihe gekämpft und sich auf den Platz zwischen mir und dem Fahrgast zwei Sitze weiter fallen lassen, einen dunkelhäutigen jungen Mann, der seine Sonnenbrille aufbehalten hatte und die ganze Zeit selig vor sich hin zu lächeln schien. Ich war mehr als zwei Wochen in Syrien und Jordanien unterwegs gewesen, und in den Bussen und Sammeltaxis dort hatten Frauen immer zugesehen, nach Möglichkeit nicht direkt neben einem Mann zu sitzen zu kommen, dass mir allein die Selbstverständlichkeit der Soldatin sagte, dass ich in einem anderen Land war. Am Abend davor hatte ich noch am Strand von Akaba unter der riesigen jordanischen Flagge an ihrem mehr als hundert Meter hohen Mast den Frauen zugeschaut, die in ihren langen Badekleidern ins Meer gegangen waren, und war erst am Morgen mit einem Taxi zur Grenze und mit einem anderen von dort zum Busbahnhof von Eilat gefahren. Eine junge Uniformierte hatte meinen Pass kontrolliert und mich mit einem skeptischen Blick durchgewinkt, nachdem sie mich gefragt hatte, was ich in Syrien gemacht hätte und ob ich allein dort gewesen sei.
Es war mein erstes Mal in Israel, und in meine Aufregung darüber mischte sich jetzt die Aufregung, im Bus nach Jerusalem neben dieser Soldatin zu sitzen, die Rucksack und Gewehr zwischen ihren Beinen abstellte und, kaum dass wir losgefahren waren, ihre Augen schloss und bald eingeschlafen war. Sie hatte mich und den Mann mit der Sonnenbrille begrüßt und gleich in ihrer ganzen Körperhaltung zu verstehen gegeben, dass sie auf kein Gespräch erpicht war. Der Bus hatte die Außenbezirke von Eilat erst hinter sich gelassen, und wir waren noch nicht richtig in der Wüste, als ich hörte, wie ihr Atem ruhiger wurde, und dann sank die ganze Fahrt durch den Negev und später am Toten Meer entlang ihr Kopf einmal auf meine Schulter, einmal auf die des Mannes auf der anderen Seite.
Wir sahen uns über ihren Scheitel hinweg an, und wenn sie zwischendurch aufschrak, sich entschuldigte und sofort wieder einnickte, wetteiferten wir regelrecht um die Gunst, sie zu stützen. Ich bemühte mich jedenfalls, die geringste Bewegung zu vermeiden, und konnte mir nicht vorstellen, dass mein Compagnon es anders hielt. Der Bus machte zwei Mal Halt an einer Raststätte, und einmal stieg sie mit uns anderen aus, um sich etwas zu trinken zu kaufen, und setzte danach ihren Schlaf wieder fort. Im Busbahnhof von Jerusalem schaute ich ihr zu, wie sie davoneilte, ihren Rucksack auf dem Rücken, ihr Gewehr über die Schulter gehängt, dass es wild hin und her schlenkerte, und trat mit dem leicht absurd anmutenden Gedanken, den Schlaf einer israelischen Soldatin bewacht zu haben, auf die Jaffa Street hinaus, in die Hitze und Helligkeit eines Spätfrühlingstages.
Der Mann im Museum sprach währenddessen weiter, aber ich hörte nur halb zu und hatte unablässig das Bild der davoneilenden Soldatin vor Augen, die sich kein einziges Mal umgedreht hatte, während sie auf den Ausgang zugestrebt war. Dann erinnerte ich mich daran, dass es in Mahmud Darwischs Buch über die Belagerung von Beirut im Sommer 1982, Memory for Forgetfulness, eine Stelle gibt, in der er von seiner jüdischen Geliebten spricht. Ich zog ein Exemplar des Buches aus dem Regal neben der Kassa und begann darin zu blättern, aber der Mann nahm es mir aus der Hand und sagte, er wisse, wonach ich suchte. Er zitierte ungeniert und wurde mir damit erst richtig unheimlich. „Do you hate Jews?“ fragt in der Szene die jüdische Geliebte Mahmud Darwisch, und er antwortet: „I love you now“ und sagt, es wäre das gleiche, als würde er sie fragen: „Do you hate Arabs?“, worauf sie erwidert: „That‘s not a question“.
Der Mann stellte das Buch in das Regal zurück, als sollte ich nicht überprüfen, was er mir erzählte. Dann sagte er, die schönsten Zeilen in diesem Dialog seien diejenigen, in denen die jüdische Geliebte sagt: „Take me to Australia“ und der Araber entgegnet: „Take me to Jerusalem“. Darin komme die ganze paradoxe Sehnsucht und Unmöglichkeit dieser Liebe zum Ausdruck, weil Australien am anderen Ende der Welt liege und Jerusalem für jemanden mit dem Status von Mahmud Darwisch nicht weniger schwer zu erreichen gewesen sei, obwohl es vor der Haustür lag. Ich war froh um diese poetische Auflösung. Die jüdische Geliebte war also weder ein Skandal für den Mann noch eine Sensation, wie ich gefürchtet hatte, und ich sah ihn mit anderen Augen an. Er lachte jetzt, als könnte er meine Gedanken lesen, und deutete ins Freie, wohin ich ihm folgte, damit er endlich seine Zigarette anzünden konnte.
Dort sprach er noch über Mahmud Darwischs Schwanken in seiner Haltung zum Exil im Laufe seines Lebens, aber ich bringe seine Merksprüche nicht mehr zusammen. Ich hatte das alles schon einmal gehört oder gelesen, bei Mahmud Darwisch und anderswo, und so richtig es sein mochte, so falsch klang es auch. „Ein freier Mann ist einer, der sein Exil aus dem einen oder anderen Grund selbst wählt.“ Dazu konnte ich nur ja sagen, konnte ich nur nein sagen. „Besser, ein Fremder im Exil zu sein, wo es jeder ist, als ein Fremder zu Hause.“ Auch da wieder nur ja, wieder nur nein. „Der Tod ist der einzige wirklich Exilierte, weil er nie die Liebe einer Frau erfahren hat, nie ein Kind gehabt, das zu ihm Vater gesagt hat.“ Das war am Ende in seinem Pathos alles zu viel, und ich war froh, als der Mann sich verabschiedete, und ging noch einmal in den Eingangsbereich des Museums und holte wieder Memory for Forgetfulness aus dem Regal. Dann blätterte ich so lange, bis ich die Stelle mit dem Dialog gefunden hatte, und fing an zu lesen, eine Szene größter Zärtlichkeit zwischen einem Araber und seiner jüdischen Geliebten, die mit folgenden Worten beginnt:
„It‘s five in the morning, my dear.“
„And does the Arab get sleepy?“ she asked playfully. „As for me, I don‘t want to sleep.“
I said, „Yes. The Arab does get sleepy, and tries to sleep.“
She said, „Go ahead. I‘ll guard your sleep.“