Dunkle Stunden

Ein Dramolett. Von Klaus Siblewski

Online seit: 23. Juni 2015

Der Kritiker K. hielt sich im Foyer eines Berliner Hotels auf. Er sollte die Lesung mit einem Autor moderieren, um 19 Uhr war er mit dem Autor im Foyer verabredet. K. kam gewohnheitsmäßig früher, er war müde und ließ sich in einen der tiefen Sessel hineinfallen, die im Eingangsbereich des Hotels standen, und streckte seine Beine lang aus.

Auf dem Weg zum Hotel hatte er sich eine Kappe gekauft, er behielt sie auf, sein Vergnügen am Tragen dieser neuen Kappe war riesig. Eine Frau mittleren Alters ging an seinem Sessel vorbei und erledigte etwas an der Rezeption. Die Frau war groß und in Begleitung eines Mannes von auffallend kleinerer und zarter Statur. K. konnte nicht anders, er schaute die Frau an, als sie wieder an seinem Sessel vorbeiging. Sie blickte auch auf ihn herab. Es verging etwas Zeit mit Schauen, dann fragte die Frau, ob K. nicht K. sei? Sie sei nämlich Frau B.

K. antwortete wahrheitsgemäß, er sei K. und überlegte, worin der Mitteilungswert der Aussage läge, dass Frau B. vor ihm stünde. Frau B. bemerkte, dass K. mit Nachdenken beschäftigt war, und sagte, dass sie die Redakteurin B. sei, sie hätten vor einiger Zeit über Thomas Hettches neuen Roman gesprochen. Außerdem habe er bei ihr angefragt, ob er den neuen Roman von Ralf Rothmann besprechen könne. K. hatte in dem Berliner Hotel mit vielem gerechnet, aber nicht damit, hier die Redakteurin B. zu treffen. Er mühte sich aus seinem Sessel heraus, im Hochwinden fand er langsam zu seiner üblichen  Aktionsfähigkeit zurück.

Ihm fiel in kurzen Abständen hintereinander ein: Die Redakteurin B. hatte er sich nie so groß vorgestellt. Er war vollkommen verblüfft darüber, dass die Augen der Redakteurin B. derart hell leuchteten. Und: Er hatte noch seine neue Kappe auf und zog sie sich als erste Maßnahme nach dem Aufstehen vom Kopf. Er schaute B. an und grüßte sie mit erst rudimentär vorhandener Stimme. Die Redakteurin sagte, er werde nicht ohne Grund im Foyer dieses Hotel sitzen, er habe wahrscheinlich an diesem Abend noch etwas zu tun, aber danach könne er doch in den „Stillen Wirt“ kommen. Dort träfen sich alle Journalisten, die hier in Berlin während des Literaturfestivals arbeiten würden. Sie könnten dann über den neuen Roman von Ralf Rothmann sprechen.

Ihr Mann, er sei für 3sat unterwegs, sei auch dabei. K., der mit der Verarbeitung dieser langen Mitteilung ausgelastet war, sagte vorsichtshalber: ja, er komme und wiederholte den Namen des Lokals. Er schaute auf seine Hände hinab und bemerkte da seine Kappe. Als er wieder aufschaute, sah er die Redakteurin winkend das Hotel verlassen, und die Tür des Fahrstuhls ging auf. Heraus kam der Autor, mit dem er auftreten sollte.

Der Autor kam auf ihn zu, sagte: Er hätte für ihn seine Kappe nicht absetzen müssen, er würde sich aber richtig geschätzt fühlen, wenn der Moderator seine Kappe vom Kopf nehme, wenn er ihn erwarte. K. wusste, ab jetzt müsste er funktionieren und ließ besser unerklärt, weswegen er seine Kopfbedeckung in Händen hielt.

Nach der Veranstaltung, sie lief gut, fuhr er zum „Stillen Wirt“. Neben der Redakteurin war ein Platz frei, ihr gegenüber saß ihr Mann. K. grüßte, setzte sich auf den freien Platz, bestellte ein alkoholfreies Weißbier. B. und K. begannen leise miteinander zu sprechen.

B Seit ihrem Gespräch über das Buch von Thomas Hettche habe sie ein schlechtes Gewissen.
K Er hoffe nicht, dass er zu wütend auf sie gewirkt habe, als er das Gespräch mit ihr beendet habe?
B Dass seine Geduld mit ihr aufgebraucht gewesen sei, wäre selbst dem Dickfälligsten nicht entgangen.
K Glücklicherweise habe sich rasch ein Funkloch eingestellt.
B Sie lege es nicht darauf an, voll und ganz verstanden zu werden, aber auf komplettes Unverständnis zu stoßen, missfalle ihr.
K Er hätte sie doch verstehen wollen. Im Widersprechen sehe er auch einen Beitrag, der auf das Erreichen von Verständnis abziele.
B Das meine sie nicht. Er hätte sich nicht zugänglich für ihre Argumente gezeigt, das hätte sie gestört. Das sei nicht die Art von  Gesprächen, die sie mit Beiträgern zu ihren Sendungen führen wolle.
EHEMANN ER empfehle eigentlich schon jetzt, das Thema zu wechseln. Wenn ein Gespräch mit Nachdenken darüber beginne, wie Verständnis erzeugt werden könne, ende dieses Gespräch meistens im Chaos.
K Er würde sich aber auch falsch verstanden fühlen, wenn B. glaube, er habe ihre Argumente nicht wahrgenommen. Er habe sie wahrgenommen und ihre Geltung aber außer Balance bringen wollen.
EHEMANN Oh je, zwei nach Harmonie Suchende an einem Tisch.
B Im Literaturbetrieb gäbe es, wenn zwei über ein Buch sprächen, mindestens zwei Meinungen, aber sie verfechte den Anspruch, ein minimales Verständnis für das Denken des anderen sollte sich doch erarbeiten lassen.
K Sie könnten ihren Verständigungswillen ja gleich trainieren: Was sie von Ralf Rothmanns neuem Roman halte?
EHEMANN Oh Gott!
B Er habe sich bemüht, einen guten Roman zu schreiben.
K Ob sie denn nachvollziehen könne, wenn er die Vokabel „bemüht“ anstößig fände?
B Nein, dafür seien ihre Nachvollziehbarkeitskapazitäten nicht ausgelegt.
K Da würden sie den ersten Punkt berühren, auf den er näher eingehen wolle. Wenn sie sage, ein Autor bemühe sich, dann hieße das doch, er sei nicht in der Lage, einen passablen Roman zu schreiben. Seine Versuche seien in Bemühungen stecken geblieben. Bemühen werte ab, der Anschein von Wohlwollen tröge.
B Sie verstehe „bemühen“ im Gegensatz zu K. ästhetisch. Mit „bemühen“ meine sie, er folge im Schreiben einer Ästhetik, die seinem Stoff und Thema nicht gewachsen sei. Ästhetisch nicht gewachsen.
K Könne sie denn erklären, in welchen Passagen von Ralf Rothmanns Roman sie sich zu dieser Einschätzung gedrängt fühle?
B Das könne sie, und das werde sie auch tun. Er solle gut zuhören.
EHEMANN Jetzt sei es vorbei mit Verstehen, so viel könne er zu dem Gespräch an dieser Stelle beitragen.
B Dieser soziale Realismus. Rothmann erzähle die Kriegsgeschichte seines Vaters. Von der SS sei dieser Mann, keine 18, zwangsrekrutiert worden. Er habe dann als Fahrer hinter der Front in Ungarn transportiert, was sich mit Lastwagen, Motorrädern und schließlich einem von Eseln gezogenen Karren fortbewegen ließ. Eine Soziologie minderwertiger werdender Verkehrsmittel könne entworfen und mit dieser Soziologie die Niederlage der deutschen Armee beschrieben werden. Aber darum ginge es nicht. Am Höhepunkt der Soldatenzeit dieses jungen Mannes fiele ein Schuss. Er müsse zusammen mit anderen Kameraden einen Freund erschießen. Nachdem das vollbracht sei, heirate er seine Elisabeth, aber zuvor sei die Niederlage Deutschlands von den Deutschen bereits anerkannt worden.
K Und was habe das mit sozialem Realismus zu tun? Er wolle sich, wie sie verabredet hätten, nicht provozieren lassen, auch nicht von ihrer verkürzten Wiedergabe des Romangeschehens, aber wenn sie von sozialem Realismus spreche, klinge das gefährlich. Immerhin erzähle Rothmann auch, dass dieser junge Mann zwar den Krieg überlebt habe, aber doch an ihm gestorben sei – mit 60. Auf diese Weise könne man den Roman auch lesen.
B Genau das meine sie. K. werde schon jetzt sentimental: überlebt, aber doch gestorben. So weit sinke selbst Ralf Rothmann in seinen Formulierungen nicht ab. Aber es stimme: Bei sozialem Realismus seien sie noch nicht angekommen. Sie sollten zunächst über das Positive in der Geschichte selber reden. Ein SS-Mann, wenn auch jung, der in Ungarn keinen Juden sehe, keinen Russen, der sich heldenhaft für einen Freund einsetze, sogar nach seinem Vater, der ihn, wenn er zu viel getrunken habe, schlug – das sei, bei allen Abgründen, eine bekömmliche Geschichte. Das bereits würde sie in dem Verdacht bestärken, Ralf Rothmann habe sich auf das Schreckliche des Krieges nicht wirklich eingelassen. Das sei ihr erstes Argument. Sozialer Realismus dann erst ihr zweites.
K Sie wolle von mehr Blut und splitternden Knochen lesen? Blut und splitternde Knochen würden doch beschrieben werden, wenn auch leiser – und deswegen beeindruckend. Zum Beispiel, als der Freund erschossen wird. Die Passagen, in denen Ralf Rothmann bis zum Speichelfaden, der sich aus dem Mund des Erschossenen löst, sehr detailliert beschreibe, was geschieht, wenn jemand durch Gewehrkugeln hingerichtet wird. In dieser Szene beschreibe Ralf Rothmann detailliert genug die Vorgänge und zeige auch klar genug, wie sich Opfer und Täter fühlten. Warum sträube sie sich, das anzuerkennen?
B Jetzt werde er polemisch, ein Ton den sie in ihrem Gespräch umgehen wolle. Wenn sie jetzt sage, er, K., bestätige ihr, was sie hätte sagen wollen, als sie sagte, Ralf Rothmann bemühe sich, dann solle er das bitte nicht als versteckt vorgetragene Gegenattacke verstehen. Aber sie meine: Der Autor beschreibe das Opfer in aller seiner äußerlichen Opferhaftigkeit. Es werde beschrieben, welche Hand mit wieviel Verband zu sehen sei, bevor ihn die Kugeln träfen, von welcher Konsistenz der Atem sei, der den Mund des Delinquenten verlasse usw. Das meine sie mit Bemühen. Diese Art des Erzählens könne ohne Ende weitergeführt werden: auf welche Weise zittert er usw. Darin stecke Willkür und Hilflosigkeit dem zu Erzählenden gegenüber, und das zeige die begrenzte Qualität dieser Art des Erzählens.  Und nun wolle sie auch gleich noch das Stichwort „sozialer Realismus“ ins Spiel bringen. Der Autor glaube, wenn er die Lebenssituationen seiner Figuren, hier einem Melker, dessen Lebensumstände usw., genau genug wiedergebe, könne er ein zutreffendes Bild entwerfen. Das stimme auf eine grundsätzliche Weise  aber nicht.
K Dem möchte er widersprechen. Rothmann beschreibe keineswegs nur die Lebensumstände seiner Hauptfigur zwischen Euter und kalbender Kuh. Sein Roman gehe viel tiefer. Er sei komponiert. Der Autor versuche die Geschichte eines schweigsamen Mannes zu beschreiben. Er wolle sich und dem Leser einen Eindruck von den Zwängen nahe bringen, denen dieser Mann als jugendlicher Soldat ausgeliefert war. Dabei gehe es um Themen wie Schuld, die sein Held unverschuldet auf sich nehme; erzählt werde der Umgang mit dieser Schuld nach dem Krieg – und auf diese Weise greife der Roman viel weiter aus: Er gebe uns eine Vorstellung von der Scham dieser jungen Männer, während der Nachkriegszeit bei der Wahrheit zu bleiben, und damit leite der Roman auf seine zurückhaltende Art in eine  Mentalitätsgeschichte der Nachkriegszeit über. Diese Leistung müsse man doch anerkennen.
EHEMANN Das sage er auch, aber Achtung: Jetzt werde es ernst.
B Er solle sie bitte nicht für starrsinnig halten, aber genau das, was ihm bei der Lektüre als positiv aufgefallen sei, bewege sie, auf Distanz zu dem Buch zu gehen. Was K. lobe, sei Rothmanns Versuch, einem jungen Soldaten in den letzten Tagen des Krieges gerecht zu werden. Aber erlaube ihm das sein ästhetisches Konzept? Habe Ralf Rothmann für Stoff und Thema wirklich eine angemessene Erzählstrategie? Wie Ralf Rothmann sich früher dem Leben im Ruhrgebiet bemächtigt habe, bemächtige er sich jetzt der Kriegsereignisse, in die sein Vater verwickelt gewesen sei. Bei seinen Ruhrgebietsfiguren möge das noch eine passende Erzählweise gewesen sein. Beim Thema Krieg versage sie aber.
K Er wolle nicht immer widersprechen, aber an dieser Stelle müsse er es. Ralf Rothmann überantworte sich seinem Stoff und darüber sei er froh. Er strebe Konkretion und Anschaulichkeit an und erreiche beides auch. Diese Art von ästhetischem Konzept falle durch ihre Unauffälligkeit auf, und er möchte sich nicht vorstellen, wie sich eine literarische Konzeption, die stärker wahrgenommen werden wolle und sich gegenüber dem Inhalt in den Vordergrund gedrängt habe, auf den Roman auswirke. Dieses pure Erzählen brächte die Geschichte eines jungen Melkers am Ende des Zweiten Weltkriegs zum Erblühen ohne – störend – noch die Literatur zu feiern.
EHEMANN Jetzt werde es interessant. Er bestelle für alle noch etwas zu trinken.
B Solle sie sagen, was sie denke? Schon die Formulierung „pures Erzählen“ fahre in sie hinein und würde dort zu heftigen Karambolagen führen. Wenn von jemandem, der, aus welchen Gründen auch immer, bei der SS war, auf „pure Weise erzählt“ werde, sähe sie die Glaubwürdigkeit dieses Erzählens verloren. Ästhetisch betrachtet, lasse sich von der SS nur auf einem hohen Reflexionsniveau erzählen.
K Gut, „pures Erzählen“ möge ein angreifbarer Begriff sein, aber eines wolle er trotzdem sagen: Rothmanns Figur sei ein kleiner Mann gewesen, der nicht mit Immanuel Kants kategorischem Imperativ oder Sigmund Freuds Studien zum sozialen Verhalten von Menschen in den Krieg gezogen sei und der sich dort hätte verhalten müssen.
B Aber exakt das sei das Problem: Ralf Rothmanns Romanfigur müsse nicht mit Kant und Freud ausgerüstet in den Krieg ziehen, aber der Autor solle seine Figur vielleicht mit etwas mehr verinnerlichtem Kant und Freud – und das meine sie wieder in ästhetischer Hinsicht – begleiten und dann davon erzählen, was mit dieser Figur geschehen sei. Das würde dann sperriger werden und nicht zu einer netten sozialrealistischen Wiederbegegnung mit dem Krieg führen.
K Das, fände er, gehe zu weit: nette sozialrealistische Wiederbegegnung. Nett sei da gar nichts, im Gegenteil: Die Schilderungen machten ihn beklommen. Sie verfolgten ihn, auch wenn er das Buch zugeschlagen habe. Sie lüden den Leser ein, sich mit den Figuren zu identifizieren, und dem Autor gelinge es, diese Einladung mit überzeugendem Nachdruck auszusprechen.
B Das wolle sie aber nicht. Sie wolle sich nicht beklommen fühlen, weil Beklemmung für sie kein angemessenes Gefühl für Vorgänge während des Zweiten Weltkriegs darstelle. Das Ende in Verharmlosungen. Wenn wir uns mit einer Figur aus dieser Zeit identifizieren könnten, habe diese Figur bereits viel von ihrem notwendigen Ernst verloren und verstrickte uns in Klischees und Sentimentalitäten.
K Grundsätzlich könne er auch werden. Was angemessene Gefühle während des Kriegs gewesen seien, möchte er nicht beurteilen. Das sei eine Frage nach Authentischem. Zu glaubhaften Gefühlen aber könne er etwas sagen: die träfe er in Ralf Rothmanns Roman an. Würden diese Gefühle ästhetisch verwirbelt werden, in welcher Form auch immer, wären diese Gefühle für den Leser kompliziert zu erkennen. Darin sehe er einen Nachteil und einen Beitrag zur Verdrängung dieser Gefühle, der wir schon viel zu lange ausgeliefert wären.
EHEMANN Hier gäbe es jetzt die Chance zur Umkehr oder des Abschieds von diesem Thema, aber er wage vorauszusagen, diese Chance werde ungenutzt bleiben.
B Ein Beispiel? Eines aus ihrem Gedächtnis. Den Abschnitt, in dem Rothmann die Nacht vor der Exekution des Freundes schildere, werde mit einem Satz von ungefähr folgendem Kaliber eingeleitet: „In der Nacht war alle Nässe gefroren, auf den Pfützen lag dünnes Eis.“ Das seien redundante Romantizismen, die mit Nacht und Eis spielen – Postkartenbilder. Ein paar oberflächliche Gefühle würden angetippt werden, mit dem aber, was in den letzten Kriegsmonaten vor sich gegangen sei, hätten solche Sätze nichts zu tun.
K Oh, da falle ihm auch ein Satz aus dem Roman ein: „In deiner dunkelsten Stunde ist es einfach nur dunkel (…).“ Das sei auch in ästhetischer Hinsicht ein optimaler Satz. Ins Diskursive übersetzt hieße das: Wenn es dunkel sei, sei es eben dunkel, und wenn der Autor dann schriebe, es sei tatsächlich dunkel, wenn es dunkel sei, dann brächte er auf den Punkt, was an dieser Stelle auf den Punkt zu bringen wäre. Weitere Komplikationen führten nur zu weiteren Komplikationen und keinen Schritt weiter in keine Richtung. Prost.
B Da bliebe ihr auch nur Prost zu sagen.
K Sie solle aber nicht nur Prost sagen, sondern auch trinken.
EHEMANN Das Trinken nach dem Prost-Sagen müsse er bei B. eigentlich nie anmahnen.
B Jetzt sei es hier wie bei den Soldaten in Ralf Rothmanns Roman. Kaum werde es ernst, würde dem Ernst ausgewichen und die Schnapsflasche aufgeschraubt.
K Bei alkoholfreiem Weizenbier könne von Schnaps nicht gesprochen werden und zu schrauben wäre an seiner Flasche auch nichts gewesen.
B Aber von mangelndem Problemverständnis. K. beabsichtige, gut zu finden, was Ralf Rothmann fabriziert habe, er wolle nicht weiterdenken, damit er seinen Leseeindruck nicht in Zweifel ziehen müsse.
K Wenn nichts in Zweifel gezogen werden müsse, sei, wenn doch etwas in Zweifel gezogen werde, das ein Überfluss an kritischem Bewusstsein, von dem kein Roman profitiere und das Urteilen über ihn auch nicht. Romane würden an dieser Skepsisverliebtheit kollabieren.
B K. feiere das Fest der Affirmation. Daran litten Rothmann und K.: an Zwangs-Affirmation.
K Er sehe das als seinen Vorzug an, in der Lage zu sein, einem Buch, dem zugestimmt werden könne, auch zustimmen zu können.
B Er sonne sich im Glanz seiner Affirmationsrhetorik.
K Sie wolle den Roman von Ralf Rothmann nicht gut finden, nicht weil er nicht gut sei, sondern weil sie nicht wolle.
B Sie könne nicht.
K Auf diese Weise äußere sich das dann. Als Nicht-Können. Er garantiere: was auch immer Ralf Rothmann schriebe, sie würde sich schütteln.
B Literaturkritik als Empfindungskunde – das sei für sie ein neues Terrain.
K Was denn sonst? Sie empfinde etwas und überhöhe diese Empfindungen dann durch  ästhetische Überlegungen – er im Übrigen auch. Gefiele ihr der Text von Ralf Rothmann, fände sie genügend literarische Argumente, ihr Gefallen als begründet erscheinen zu lassen.
B Jetzt gebe sie auf. Dann stünde Literaturkritik der Selbsterfahrung näher als dem ästhetischen Denken.
K Dieser letzte Satz gefalle ihm, besonders wenn sie ihn nicht abschätzig meine, sondern ihn in seiner Tiefe annehmen könne.
B Sie könne, offen gesagt, nicht glauben, was sie gerade gehört habe.
K Er glaube auch, dass er nicht wirklich das gesagt habe, was er gesagt haben müsse, wenn er ihre Erwiderungen ernst nehme.
EHEMANN Er könne schon lange nicht mehr glauben, was er die ganze Zeit über höre und werde jetzt Schnaps bestellen. Kellner!

Klaus Siblewski ist Verlagslektor, Initiator der Deutschen Lektorenkonferenz und Herausgeber. Zuletzt erschienen von ihm die Bände Wie Romane entstehen (2008, zusammen mit Hanns-Josef Ortheil) und Wie Gedichte entstehen (2009, zusammen mit Norbert Hummelt) im Luchterhand Verlag.

Quelle: Volltext 2/2015

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben
Roman. Suhrkamp, Berlin 2015
234 Seiten, € 19,95 (D) / € 20,60 (A)