Thomas Lang
Alberto Moravia: Der Ungehorsam
Mit 15 gleitet Luca in eine allumfassende Verweigerung, wird schlecht in der Schule, hört auf, die Eltern zu lieben, trennt sich von allem, was ihm teuer ist. Sein Ungehorsam wird von vitalen Kräften auf die Probe gestellt; einmal ist es das Kindermädchen, das ihn verführen will. Schließlich richtet sich Lucas Verweigerung gegen das Leben selbst und er will sterben. Eine schwere Krankheit löst das Dilemma. Luca wird zum Mann. Nach der folgenden ersten sexuellen Erfahrung denkt er: „… des Dunkels, der Spannung und Lösung als lebensspendender Kräfte sich dankbar bewußt zu sein – das mußte ,leben‘ heißen.“ Moravia kommt für dieses zarte Porträt mit wenigen Motiven aus und schildert Lucas Entwicklung mit unausweichlicher Folgerichtigkeit. Dabei setzt er ganz auf die innere Spannung der Figur. Der Aufgewühltheit des Jungen begegnet er mit Gemessenheit des Stils. Der Sachlichkeit haucht Moravia einen Zauber ein.
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Martin Prinz
Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser
Im Jahr 1929 betrat Robert Walser die Irrenanstalt Waldau. Anfangs schrieb er noch, mit der Überstellung in die Anstalt Herisau hörte er damit auf, verlas Linsen, Bohnen, Kastanien oder klebte Papiersäcke. Ab Juli 1936 besuchte ihn der Schweizer Autor Carl Seelig und begleitete ihn auf langen Spaziergängen. Früher war Walser weiter gegangen, früher hatte er aber noch geschrieben. Seeligs Aufzeichnungen dieser von Bier, Wein und Essen durchzogenen Gänge bieten Eingang in ein Werk, das mit der Welt bis heute Versteck spielt.
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Uwe Schütte
Thomas Kunst: Freie Folge
Der Leipziger Autor Thomas Kunst ist nicht nur ein bedeutender Dichter, sondern ebenso ein bemerkenswerter Erzähler. Sein Roman Freie Folge (2015) bietet eine meisterliche Prosa, wie man sie heute nur selten findet. Schnell zusammenfassen lässt sich der um das Zentralmotiv der Falknerei komponierte Roman nicht – das begrenzte Figurenpersonal verschwimmt zusehends, Zeitebenen und Orte der Handlung wechseln. Immer wieder ins Lyrische übergreifend, gewinnt die durch Wiederholungen erzeugte Musikalität der Prosa die Oberhand. Freie Folge beigelegt als Soundtrack ist eine CD von Kunsts musikalischem Soloprojekt „Mitleid in Toronto“, wodurch das Ganze zu einem außergewöhnlichen Literatur-Musik-Hybrid wird. Thomas Kunst ist eine Ausnahmeerscheinung im Meer der konventionellen Gegenwartsliteratur.
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Karin S. Wozonig
Franz Grillparzer: Selbstbiographie
Franz Grillparzers Bildungsbiographie hat nicht gerade vielversprechend angefangen. Die Aufnahmsprüfung für das Gymnasium schafft er nur, weil sein Vater den Prüfer mit sechs oder acht großen Oleanderstöcken besticht, und, wie der 62-Jährige zugibt: „Das Einmaleins ist mir bis auf die Stunde nicht geläufig.“ Das hindert das Fortkommen des zukünftigen Hofkammer-Beamten und Dichters aber nicht, wohingegen Zensur und unverständiges Publikum ihm das Leben richtig schwer machen. Wie, das schildert Grillparzer in seiner Selbstbiographie äußerst kurzweilig.
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Teresa Präauer
Satu Taskinen: Kinder
Wo des tragischen Helden Hang zum existenziellen Philosophieren auf das Hegen von Zwangsgedanken trifft, ist der Humor trocken und die Erkenntnis weise: „Warum ist die Scham über die eigene Dummheit so schwer zu ertragen? Jeder Mensch ist auch dumm. Wirklich jeder.“ Der Roman Kinder der finnisch-österreichischen Autorin Satu Taskinen ist, übersetzt von Regine Pirschel, 2018 im Residenz Verlag erschienen.
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Susanne Schleyer
Bettina Wilpert: Nichts, was uns passiert
Das 2018er-Debüt einer jungen Autorin, die dafür verdient den aspekte-Literaturpreis bekommen hat. In nüchterner, manchmal vielleicht etwas zu bescheidener Sprache, sind wir Leser Teil eines riesigen Freundes- und Arbeitskreises im studentisch-universitären Milieu einer Großstadt. Da passiert es. Anna beschuldigt Jonas der Vergewaltigung. Wir Leser sind dabei. Auch beim „Akt“ an sich. Wir erfahren nun von beiden Seiten und durch die Freunde und Kollegen deren Meinungen und Ansichten, auch von denen, die nicht „dabei“ waren.
Bedeutet „Nein!“ immer „Nein!“? Dieses Buch geht über die übliche #meToo-Debatte hinaus. Der Leser kann entscheiden, was er denkt.
Er wird verwirrt sein – und das bis zum Ende.