In den Rettungsbooten

Norbert Gstreins Kolumne „Writer at Large“

Online seit: 16. August 2020

In der Welt konnte man vor wenigen Monaten den Essay „Der Roman ist tot (jetzt aber wirklich)“ von Will Self lesen. Ein solcher Abgesang wird natürlich nicht das erste Mal angestimmt, im Gegenteil, die Beschwörung seines Endes begleitet den Roman fast seit seinen Anfängen, was allerdings auch nicht heißt, dass das „jetzt aber wirklich“ nicht jetzt aber wirklich zutreffen könnte. Will Self feiert den „ernsthaften Roman“ noch einmal als „kulturelle Krönung und Gipfel schöpferischer Bestrebungen“, als die er in der ganzen zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gegolten habe. Nicht, dass nicht da auch schon „die Popkultur mit all ihren Ausformungen … die Psyche und Fantasie der großen Mehrheit im Griff gehabt hätte“, und nicht, dass es da nicht auch schon das „Biedermann-Spießertum“ gegeben hätte, das sich seine prinzipielle Kunstablehnung zugute hielt … „Was jedoch nicht herrschte, war das gegenwärtige Glaubenssystem, in welchem derjenige, der die höheren Künste ablehnt, sich zu seiner Meinung nicht nur berechtigt, sondern vollkommen darin gerechtfertigt fühlt. Mehr noch: Das Markenzeichen unserer zeitgenössischen Kultur ist ein aktiver Widerstand gegen Schwierigkeit in all ihren ästhetischen Ausprägungen, gepaart mit einer Art von Groll, der sie mit politischem Elitedenken zusammenbringt.“

Es ist Zufall, aber wenn man der These vom Tod des ernsthaften Romans „jetzt aber wirklich“ Glauben schenken will, vielleicht ein sprechender Zufall, dass nur wenige Wochen nach der Publikation dieses Essays die Zeitungen triumphierend meldeten, dass zum ersten Mal ein Computer-System den Turing-Test bestanden habe. Seit es Computer gibt, gibt es auch die Frage, ob Computer denken können, und Alan Turing, einer ihrer Väter, hatte schon 1950 vorausgesagt, im Jahr 2000 seien weniger als 70 Prozent der Menschen imstande, Computer in einem Blinddialog von Menschen zu unterscheiden. Darauf basiert der nach ihm benannte Test, den jetzt ein System namens Eugene Goostman – ein Chatbot zur Simulation von menschlichen Unterhaltungen, der vorgibt, ein dreizehnjähriger Junge aus Odessa zu sein – erfolgreich hinter sich gebracht haben soll. Abgesehen von allen Details, die zu klären wären, heißt das allerdings noch lange nicht, dass Computer denken können, aber vielleicht sollten wir in diesem Zusammenhang denken auch gar nicht überschätzen. Denn was sie können, ist eine ganze Menge, und die Art und Weise, wie sie denken zu simulieren vermögen, kann uns ebenso beeindrucken wie das Fürchten lehren. Übersehen sollte man dabei nicht die Frage, was mit dem menschlichen Denken im Umgang mit Computersystemen geschieht: Deren Systemverhalten wird immer besser darauf programmiert, sich unserem Denken anzugleichen, aber wie sehr hat sich umgekehrt unser Denken schon ihrem Systemverhalten angeglichen?

Ein Trivialroman wäre einer, der entweder tatsächlich von einem Computersystem generiert wurde oder jedenfalls ohne Verlust von ihm generiert werden könnte.

Das bringt mich noch einmal auf Will Self zurück, der schreibt: „Es gibt nur eine einzige Frage, die man sich stellen muss, um zu klären, ob der anspruchsvolle Roman in zwanzig Jahren noch immer eine kulturelle Vorrangstellung und zentrale Bedeutung haben wird. Die Frage ist die: