Emmanuel Carrère und das Problem des Guten

Von Michel Houellebecq.
„Meine Überzeugungen sind überschaubar, doch sie sind heftig. Ich glaube an die Möglichkeit eines begrenzten Himmelreichs.“

Online seit: 11. Dezember 2020
 Emmanuel Carrère © Julia von Vietinghoff
Nähert sich der Welt ohne vorgefasste Theorie: Emmanuel Carrère. Foto: Julia von Vietinghoff

Unter den zahlreichen umwerfenden Passagen, die Alles ist wahr ausmachen, ist für mich eine der herzzerreißendsten jene über die alte englische Lesbe, die gerade ihre Partnerin in der Katastrophe verloren hat: „my girlfriend, sagte sie – und ich stelle mir das Leben dieses alternden lesbischen Paars in ihrer englischen Kleinstadt vor, ihr Engagement in den ortsansässigen Vereinen, ihr liebevoll eingerichtetes Haus, ihre jährlichen Fernreisen, ihre Fotoalben – all das in Scherben. Die Rückkehr der Überlebenden, das leere Haus. Die Kaffeebecher mit dem Namen einer jeden, von denen einer nie wieder benutzt werden wird. Und die dicke Frau am Küchentisch, die ihren Kopf in die Hände legt und weint und sich sagt, von nun an bin ich allein und werde es bis zu meinem Tod bleiben …“1

Die Menschen wissen gelinde gesagt nicht mehr, wie man lebt. Das Chaos ist absolut, die Desorientierung flächendeckend.

Emmanuel Carrère ist dieser alternden englischen Lesbe tatsächlich begegnet, in jenem Urlaub in Ceylon, der so schlimm endete; aber