Der Kritiker als Parasit

Nicht gehaltene Rede auf dem Kritiker-Treffen im Literarischen Colloquium. Aus dem Nachlass von Michael Braun

Online seit: 6. Mai 2023

Über mehr als ein Jahrzehnt hinweg hat Michael Braun für VOLLTEXT Gedichte ausgewählt und kommentiert, Besprechungen geliefert und Interviews geführt. Durch seine facettenreichen Beiträge vor allem zur zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik hat er diese Zeitschrift mitgeprägt wie nur wenige andere. Am 23. Dezember vergangenen Jahres ist er für uns alle völlig überraschend an einer Lungenembolie gestorben. Eine ausführliche Würdigung seines Schaffens hat Paul-Henri Campbell bereits auf unserer Website volltext.net veröffentlicht („Ein Trotzdem und ein Wunder“). Hier wollen wir Michael Braun selbst noch einmal zu Wort kommen lassen, mit einer nicht gehaltenen Rede, die 1987 in der taz erschienen ist. Im Mai jenes Jahres hatte das Literarische Colloquium Berlin in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturfonds unter dem Titel „Literaturkritik oder Literaturvermittlung?“ eine Tagung veranstaltet, die den damals noch vergleichweise unbekannten Michael Braun zu ein paar scharfen Anmerkungen veranlasst hat:

Ich bin kein Stratege im Literaturkampf, sondern ein Kleinkritiker mit niedriger Schreibgeschwindigkeit und gelegentlicher Ladehemmung: Mein Tauschwert auf dem Markt der literaturbetriebsamen Eitelkeiten ist nicht allzu hoch zu veranschlagen. Meine Nestbeschmutzung wird daher die hier versammelten literaturkritischen Instanzen nicht sonderlich berühren, denn die folgenden masochistischen Thesen sind nicht neu. „Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehn“, notiert Karl Kraus und trifft damit haarscharf den Kern der Kritiker-Existenz.

Ein Kritiker, hat er sich erst einmal in der Riege der Meinungsbildner etabliert, darf ungestraft zur eigenen Parodie werden, indem er jahrelang die eleganten Phrasen wiederkäut, die ihm seine Formulierungsroutine zuspielt. Über Jahre und Hunderte von Seiten hinweg darf er seine beliebigen Geschmacksurteile ausbreiten, ohne dass ihm irgendein denunzierter Schriftsteller oder empörter Leser Einhalt gebieten könnte.

Methodisch geschieht dies auf einem Weg, den hier Willi Winkler in seinem vorzüglichen Referat über „Das Ende der Literaturkritik“ (nachzulesen in der Zeit) beschrieben hat: Der Kritiker ist ein Vampir mit beschränktem Methodenbewusstsein – er saugt seinem epischen oder lyrischen Opfer das Blut aus, um es anschließend noch zu verhöhnen. Seine parasitäre Sekundarkreativität steht in einem paradoxen Verhältnis zu seinem öffentlichen Status im Literaturbetrieb. Denn der Großkritiker ist die letzte privilegierte Figur in einem übersättigten Literaturbetrieb, die noch die Macht des gedruckten Wortes zu nutzen vermag. Er genießt absolute Narrenfreiheit, und wir bewundern ihn dafür. Wir beten ihn an, den großen Manitu aus der FAZ, dessen Revolver-Rhetorik ebenso einzigartig bleibt wie sein Unterhaltungswert.

All diese symbolisch verrätselten, schwierig zu lesenden Romane würde unser Kritiker kaltblütig belobigen: aber er hat diese Bücher ja nicht einmal angerührt, die sind ihm einfach zu dick.

Der Durchschnittskritiker hingegen schreibt hinein in ein Vakuum, in eine unendliche Leere, die dort lokalisiert ist, wo sich vorher die bürgerliche Öffentlichkeit tummelte. Dieser imaginäre Raum des öffentlichen Diskurses ist bis auf wenige Überbleibsel verschwunden, hat sich aufgelöst in ein vielstimmiges Gemurmel, von dem niemand mehr erwarten kann, dass irgendwer noch zuhört. Am allerwenigsten der Leser, der stur zum Eco-Süskind-Naschwerk greift und die Warnung des Kritikers vor literarischen Windbeuteln geflissentlich überhört.

Aber welches Buch kann er denn wirklich noch guten Gewissens anpreisen, unser Kritiker? Genre möchte er Peter Weiss und seine strenge Ästhetik des Widerstands als Gegengift zur seichten Mittelmäßigkeit, die tagaus, tagein auf seinen Schreibtisch flattert, empfehlen, aber er hat ja die Lektüre im zweiten Band ermüdet abgebrochen. Auch die monumentalen Romane von Stefan Schütz (Medusa) oder Gerhard Roth (Landläufiger Tod) oder gar das 3.000-Seiten-Opus von Marianne Fritz (Dessen Sprache du nicht verstehst): All diese symbolisch verrätselten, schwierig zu lesenden Romane würde unser Kritiker kaltblütig belobigen: aber er hat diese Bücher ja nicht einmal angerührt, die sind ihm einfach zu dick.

So kämpft sich der Durchschnittskritiker mit seinen immergleichen Maßstäben und Verdikten von Buch zu Buch und lässt seine Opfer