Flaschenzeit

Von David Bröderbauer. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXVIII

Online seit: 27. August 2021
David Bröderbauer © Matthias Guido Braudisch
David Bröderbauer. Foto: Matthias Guido Braudisch

Ich arbeite an einem Roman, der in der Zukunft spielt und von der Vergangenheit handelt. Die Zukunft zu konstruieren ist einfach. Nahtlos fügt sich alles aneinander. Mit der Vergangenheit ist es schwieriger, die vergangene Wirklichkeit hat Risse und Löcher bekommen, die Sachverhalte passen nicht mehr zusammen, in den Fugen liegt Staub.
Das Problem der inkonsistenten (oder inkontinenten) Zeit stellt sich mir nicht nur hier. Parallel zu meinem Roman arbeite ich an einer Art von Chronik: Bevor ich mich am Abend (nach Broterwerb und Abendessenkochen und Aufräumen und Schlafenlegen) an den Schreibtisch setze und an meinem Roman schreibe – wenn ich denn schreibe und nicht stattdessen Whisky trinke – schreibe ich auf, was meine Tochter wieder Neues gelernt, getan, erlebt hat. Ich schreibe zum Beispiel auf, dass sie beim Windelwechseln das Unkaputtbar-Heft mit beiden Händen wie eine Zeitung vor das Gesicht gehalten hat, dass die Spitze des ersten Zahns hervorlugt (es ist bei fast allen Babys fast immer einer der mittleren Schneidezähne im Unterkiefer), oder dass sie ihr erstes Stück Pizza gegessen hat (ohne Zähne hinuntergewürgt).
Ich schreibe das auf, damit ich diese Erinnerungen möglichst genau behalte. Denn das ist nicht einfach. Viele Eltern haben mir davon erzählt, aber ich habe es nicht für möglich gehalten: Die Gegenwart eines Kindes, die Gegenwart, die man mit einem Kind teilt, ist so mächtig, dass sie wie die Front einer Flutwelle, die auf Land trifft, alles mitreißt, was man gerade erlebt hat. Schon nach kurzer Zeit kann man sich nicht mehr „richtig“ erinnern, wie das Kind war, als es noch nicht robben konnte, wie es in den ersten Wochen aussah, wie wir (mit ihm noch im Bauch) die Zeit der Schwangerschaft verbracht haben. Dank meiner Aufzeichnungen, so dachte ich mir, kann ich alles nachlesen und meiner Erinnerung auf die Sprünge helfen.
Nachdem ich nach mehr als dreißig Wochen der Aufzeichnungen damit begonnen habe, die älteren Einträge zu lesen, musste ich allerdings feststellen, dass sie die Wirklichkeit nicht annähernd wiedergeben. Mit dem Niederschreiben der Ereignisse ist nichts getan, und nicht, weil die Zusammenhänge zwischen den Einträgen fehlen, sondern weil das Einmalige immer unbedeutender ist als das sich ständig Wiederholende. Ich müsste jeden Tag die Bussi-Attacke vermerken, die von der Mama noch im Bett gestartet wird, das Abwischen des Hochstuhls nach jeder Mahlzeit, zuerst die Essablagefläche, dann die Sitzfläche, dann die Fußstütze, dann den Boden darunter, ich müsste aufschreiben, wie ich sie wieder und wieder auf die Wickelablage lege, wie sie sich wieder und wieder vom Rücken auf den Bauch dreht, aber nur selten vom Bauch auf den Rücken. Aber vieles davon nehme ich selbst nicht richtig wahr, ich tue die Dinge automatisch, oder sie geschehen vor meinen Augen, ohne dass ich sie noch sehe, geschweige denn aufschreibe. Meine Wahrnehmung kapituliert vor der Fülle der sich wiederholenden Eindrücke, registriert sie bloß noch als schon bekannt und gibt nicht weiter darauf acht. Ich muss mich anstrengen, mein Kind bewusst anzusehen, ihre Züge bewusst wahrzunehmen, ihr Verhalten. Manchmal gelingt es, aber diese Momente lassen sich nur mit einem Kraftaufwand herstellen, es sind Momente großer Anspannung (Ihr Gesichtsausdruck bei der Geburt, als sie zwischen den Beinen hervorgepresst wurde), oder Momente des Erlahmens aller Kräfte, wenn die Wahrnehmung ganz auslässt. Dann sehe ich das Kind unverstellt, ich sehe, wie sie an meiner Brust einschläft und spüre wie ihre Glieder sich lösen, ich spüre ihre Finger, die mein Gesicht betasten, um sich noch im Schlaf meiner Gegenwart zu versichern. Es sind Momente der Intensität, kurz bleibt alles stehen und es ist Gegenwart.
Wollte man das alles aufschreiben, müsste man eine kolossale Erzählung verfassen, die alle Ereignisse bis ins kleinste Detail schildert und mit Reflexionen auskleidet. Aber dazu fehlt mir die Zeit, schließlich will ich an meinem Roman arbeiten.
Im schlimmsten Fall haben meine Aufzeichnungen sogar einen nachteiligen Effekt und verfälschen das Bild, das meine Tochter von ihrem Aufwachsen hat, lassen sie später, wenn sie die Aufzeichnungen vielleicht einmal liest, Erinnerungen von etwas konstruieren, das so nicht passiert ist. Deshalb habe ich am Anfang des Hefts, in dem ich das Aufwachsen meiner Tochter festhalte, ein Vorwort ergänzt. Dort steht nun, dass die Aufzeichnungen erstens meine subjektive Sicht wiedergeben und zweitens unvollständig sind – eine Kapitulationserklärung, wenn man so will.

Nachdem ich die neuen Erstemale meiner Tochter in Stichworten notiert habe (nach Broterwerb und Abendessenkochen und Aufräumen und Schlafenlegen), setze ich mich an den Computer, um an meinem Zukunfts-Vergangenheits-Roman weiterzuschreiben. Das Ritual ist meistens dasselbe: Ich lese meine Mails, dann lese ich Nachrichten, dann schaue ich mir Videos an, lese internationale Nachrichten auf einem englischen Portal, sehe mir die aktuellen Fußballergebnisse an, öffne zwischendurch den Ordner mit dem Manuskript und sehe noch ein Video an oder suche neue Nachrichten. Ich tue das, weil ich zu müde bin, um gleich mit dem Schreiben zu beginnen, zu müde, um mich zu konzentrieren. Deshalb surfe ich, ich schalte mein Hirn aus und rufe fremde Erinnerungen und Bilder ab, borge mir fremde Zeit, die in irgendwelchen Datencentern irgendwo auf der Erde auf Festplatten gespeichert ist, die jederzeit abrufbar ist und vielleicht für alle Zeit abrufbar bleiben wird. Ich rufe sie ab in der Hoffnung, dass ich mich dabei etwas erhole und von der Erholung ins Schreiben finde. Meistens geschieht das nicht. Ich kapituliere vor der Müdigkeit, die es mir verunmöglicht, auch nur zwei zusammenhängende Sätze zu schreiben. Meistens finde ich stattdessen in noch eine Nachrichtenseite und noch ein Video, und in den Whisky.

Mit Whisky kann man viel Zeit verbringen – nicht nur trinkend (so viel Whisky kann man bei 46% Alkoholgehalt gar nicht trinken). Als Entlastung für meine Leber schaue ich oft Videos von Whisky-Verkostungen, anstatt zu trinken. Es müssen schon hunderte Whisky-Abfüllungen gewesen sein, bei deren Verkostung ich zugesehen habe. In jedem Fall mehr, als ich je werde trinken können.
Whisky ist faszinierend. Ein aus Bier destillierter Schnaps, der Jahre und Jahrzehnte in Fässern reift. Am Ende schmeckt man nicht mehr (nur) den Schnaps, sondern das Fass und das, was vor dem Whisky im Fass gelagert wurde. Man befüllt Whisky-Fässer zuerst mit Sherry, Bourbon, Süßwein, um dem Whisky einen besonderen Geschmack zu verleihen. Ein Whisky, wie ich ihn vor kurzem getrunken habe (er ließ eine ausgeprägte Sherry-Note erkennen), hat zwanzig Jahre in einem solcherart präparierten Fass gelegen. Auf dem Weg von der Zungenspitze in den Rachen erschließt sich, wie die Zeit auf den Whisky eingewirkt hat. Was ich schmecke, ist die Summe eines zwanzigjährigen Prozesses. Whisky ist in Flaschen abgefüllte Zeit, wenn man so will.
Nicht nur das, schmeckt derselbe Whisky jedes Mal, wenn man sich einen Schluck eingießt (es sind nur kleine Schlucke … höchstens ein Doppelter … allerhöchstens nach dem Doppelten noch ein kleiner Schluck zum Nachspüren), anders. Je nachdem, was man davor gegessen hat, in welcher Stimmungslage und in welchem Grad von Wachheit man sich gerade befindet, nimmt man unterschiedliche Geschmacksnoten wahr. Darüber hinaus schmeckt derselbe Whisky für jede Person unterschiedlich, denn das eigene Geschmacksempfinden hängt davon ab, welchen Geschmackseindrücken man im Laufe seines Lebens ausgesetzt war. In gewisser Weise schmeckt man einen Whisky nicht in der Gegenwart, sondern man erinnert vergangene Geschmäcker. Das ist nicht nur beim Whisky so. Das Besondere am Whisky ist, dass er aufgrund der Vielfalt der Möglichkeiten beim Destillieren und Nachreifen so viele Geschmacksnoten hervorbringen kann, dass sich einem beim Trinken ein Kosmos aus Sinneseindrücken (und Erinnerungen) eröffnet. Um diesen Kosmos zu erschließen, bedarf es aber der ständigen Wiederholung. Man muss einen Whisky wieder und wieder trinken, um die verschiedenen Nuancen wahrzunehmen. Dem Whisky, den ich gerade trinke, wird etwa auf dem Etikett eine Haselnussnote nachgesagt, die mir zu finden bei jedem neuen Glas (auch bei einem Doppelten) misslang, bis diese Haselnussnote eines Abends, an dem ich wieder nicht schrieb, plötzlich da war. Der Whisky schmeckte nur nach Haselnuss und nichts anderem. Als ich ein paar Abende später wieder davon gekostet hatte, war das Haselnussaroma wieder verschwunden.

Während ich trinke, schlafen meine Lebensgefährtin und meine Tochter. Treffen mit Freunden verschiebe ich aufgrund der Umstände ständig auf später. Stattdessen quartiere ich mich in den Serverfarmen der Welt ein, transferiere mein Dasein in den virtuellen Raum, lasse die Zeit leerlaufen.
Whisky trinkend und Whisky-Verkostungen schauend verabschiede ich mich aus der Gegenwart. Im Hier und Jetzt halte ich mich nur mehr sporadisch auf, ich bin alt genug, dass mir die Vergangenheit und eine wenig ereignisreiche Zukunft reichen.
Das ist das Traurige (Ernüchternde) am Abfüllen der Zeit (in Fässern, auf Servern … wo auch immer). Die abgefüllte Zeit ist keine lebendige. Je mehr Abfüllungen ich sammle, umso beliebiger werden sie – irgendwann stehen hundert verschiedene Whiskys mit Sherry-Note in meinem Regal, hundert, die nach Torfrauch schmecken. Am Ende machen nur mehr die bunten Etiketten den Unterschied aus, und die von Marketingfachleuten produzierten Sprüche darauf – Klappentexte, die die vermeintliche Einzigartigkeit jeder Abfüllung beschwören.
Am Ende eines Glases bin ich manchmal ein wenig deprimiert. Dann gehe ich schlafen, anstatt an meinem Roman weiterzuarbeiten, denn in einem solchen Zustand (deprimiert, müde), finde ich nicht mehr ins Schreiben.

Das Schreiben ist natürlich auch eine Verabschiedung aus der Gegenwart, die Schrift war der Anfang vom Ende der Gegenwart. Nichtsdestotrotz erfordert Schreiben Wachheit – man muss wach und fokussiert sein, um schreiben zu können (auch im Rausch soll es angeblich gut gehen, das kann ich aber nicht bestätigen). Ich bin zu müde, um wach und fokussiert zu sein. Deshalb verfolge ich eine andere Strategie – die Strategie der Wiederholung. Ich mache es wie beim Whisky-Trinken – ich kehre zum Text zurück, Tag für Tag, tue immer dasselbe, bis etwas Neues auftaucht. Ich behandle meinen Text wie meine Tochter ihre Bilderbücher – ich springe vor und zurück, sehe mir dieselben Seiten wieder und wieder an, als wären sie jedes Mal neu. Jeden Abend setze ich mich wieder hin, spiele mein Ritual durch und zwinge mich – langsam nur, aber nach und nach – Zeile um Zeile aneinanderzureihen. So entsteht keine zusammenhängende Erzählung, aber eine brüchige, die Zeiten fügen sich nicht nahtlos aneinander, es bleiben Risse. Das kommt mir nicht falsch vor. Früher oder später werde ich so den Roman über die Vergangenheit in der Zukunft zu Ende bringen. Das Ende – so viel weiß ich schon – ist offen.

* * *

David Bröderbauer, geboren 1981 in Zwettl (NÖ), lebt in Wien. Studium der Biologie, Forschungsreisen unter anderem nach Costa Rica und China. Absolvent der Leondinger Akademie für Literatur. Der Autor wurde 2019 mit dem Heinrich-Gleißner-Förderpreis ausgezeichnet. Sein Debütroman Wolfssteig erschien im Frühjahr 2019 im Milena Verlag. Im Herbst 2020 folgte der Roman Waltauchen.