Wenn die Tochter mit dem Vater

Die familiär verstrickte Autorschaft von Marie-Jo und Georges Simenon. Von Felix Philipp Ingold

Online seit: 5. August 2020

Im Herbst 1972 entschloss sich Georges Simenon, damals 69 Jahre alt, die Schriftstellerei definitiv aufzugeben. Der Entscheid erfolgte ziemlich unvermittelt und wurde bekräftigt dadurch, dass der weltweit berühmte Großschriftsteller all seine Personalpapiere korrigieren ließ – statt seiner Bezeichnung als „Romancier“ wollte er nun den Vermerk „ohne Beruf“ eingetragen haben.

Dem plötzlichen Rückzug aus dem Literaturbetrieb gingen langwierige Vorarbeiten zu einem monumentalen Romanwerk voraus, mit dem Simenon unter dem vielsagenden Titel Victor (der Sieger) seine Lebens- und Schreiberfahrungen in literarisch anspruchsvoller Form auf den Punkt bringen, vor allem jedoch sich selbst als Autor von Rang ausweisen wollte. Denn dieser Ausweis war ihm, dem vielgelesenen Unterhaltungsliteraten, vonseiten der professionellen Kritik versagt geblieben.

„Ich will jeden Anschein von Literatur vermeiden. Ich habe einen Horror vor Literatur!“

Ob nun aber der hohe künstlerische Anspruch oder die ultimative autobiografische Herausforderung den Vielschreiber an seinem Projekt scheitern ließ, ist nicht ganz klar, dies umso weniger, als er zuvor während Jahrzehnten mit scheinbar leichter Hand das wohl umfangsreichste Œuvre der neuzeitlichen Erzählliteratur geschaffen hatte. Zu Hunderten sind unter seiner Hand in rascher Folge Abenteuer-, Kriminal-, Liebes- und unbedarfte Groschenromane entstanden, außerdem (weit zahlreicher noch) Kurzgeschichten, Kolumnen, Reise- und Erinnerungsberichte – insgesamt soll Georges Simenons Gesamtwerk mehr als eine Million Druckseiten umfassen; in deutscher Sprache liegen 218 Bände unter seinem Namen vor.*

George Simenon, 1963. Foto: © Erling Mandelmann
George Simenon, 1963.
Foto: © Erling Mandelmann

Dass er früher oder später den Nobelpreis für Literatur erhalten würde, war für ihn eine klare Sache; er selbst brachte sich öffentlich als Kandidaten dafür ins Spiel – er, der jegliche „Literatur mit großem L als Unsinn“ zurückwies und provokant festhielt: „Ich will jeden Anschein von Literatur vermeiden. Ich habe einen Horror vor Literatur!“ Gleichzeitig nannte er als seine wirkungsstärksten Vorbilder die russischen Meistererzähler Gogol, Dostojewskij und Tschechow, von deren Einfluss bei ihm freilich kaum etwas auszumachen ist. Dass ihn zumindest das Feuilleton mit Balzac, Poe und selbst mit Goethe vergleichen konnte und ihn als einen „Stilisten von Rang“, ja von „Weltrang“ (NZZ) bezeichnete, hat ihm weder zum Nobelpreis noch zur Aufnahme in den Kanon der Weltliteratur verholfen.

Vor allem andern hatte es Simenon darauf angelegt, die Quantität des Outputs als Qualitätsmarke durchzusetzen, und tatsächlich kann man von seinem graphomanischen Furor ebenso beeindruckt sein wie von der im eigentlichen Wortsinn „buchhalterischen“ Strenge, mit der er seine Schreibarbeit über Jahrzehnte hin unter Kontrolle hielt und sich dadurch selbst – er war ein leidenschaftlicher Lebemann, zugleich ein besorgter Familienmensch – erfolgreich disziplinierte. Das Schreiben war für ihn eine gleichsam organische Funktion, seine Autorschaft ein permanenter spermatischer Kraftakt.

Hunderte Romane, tausende Frauen

Simenon will nach eigenem Bekunden nicht nur Hunderte von Romanen abgefasst, sondern auch Tausende von Frauen besessen haben – seine Vorliebe galt Prostituierten und Zufallsbekanntschaften, die er so rasch vergessen konnte, wie er sie konsumierte, ein Verhalten, das in seiner Graphomanie eine Parallele findet: Keins seiner kurzfristig niedergeschriebenen Werke hat er vor oder nach der Drucklegung noch einmal durchgelesen, keins durfte lektoriert und korrigiert werden; wichtig war bloß, dass die Texte in möglichst hoher Auflage jeweils rasch herausgebracht und verbreitet wurden. Dass sie ihm überdies sehr viel Geld und weltweiten Ruhm einbrachten, ließ ihn eher gleichgültig, er hielt es aber für einen angenehmen Nebeneffekt, und entsprechend sorglos verfuhr er damit – vorzugsweise residierte er mit seiner Familie und seinem zahlreichen Dienstpersonal in Schlössern, geräumigen Villen und Luxushotels; er liebte teure Limousinen und Sportwagen und ließsich gern von fest angestellten Fahrern chauffieren.

All seine Ehefrauen und sonstigen Lebenspartnerinnen, zum Teil auch die Hausangestellten, hat Simenon willkürlich umgetauft, indem er ihnen neue Namen gab, die in seinem Haushalt obligatorisch verwendet werden mussten.

Doch großzügig beteiligte er auch andere an seinem Reichtum, Bekannte wie Verwandte unterstützte und beschenkte er so exorbitant, dass sie sich bisweilen überfordert fühlten von all den Zuwendungen, die sie durch nichts abzugelten vermochten. In Interviews oder autobiografischen Schriften hat Simenon wiederholt von rauschhaften