Jüngelismus und Operettenvertrottelung

Über die verzerrte Wahrnehmung Anton Kuhs. Von Walter Schübler
„Ich sehe leider: ob Hitler, ob Karl Kraus – es ist dasselbe.“

Online seit: 7. Juni 2020

Studienjahr 1962/63 an der University of Kansas, Lawrence, Kansas, USA. Bei einem Treffen von vier Fulbright-Stipendiaten aus Österreich – einer davon der nachmalige Innsbrucker Germanistik-Ordinarius Sigurd Paul Scheichl – und eines österreichischen Germanistik-Gastdozenten im Frühjahr 1963 spielt eine Kommilitonin eine im Jahr davor aufgenommene Qualtinger-Platte, die sie von einem Ferienaufenthalt in der Heimat mitgebracht hat: Österreichisches Lesebuch. Helmut Qualtinger liest Anton Kuh. Man ist sich schnell einig: Einer jener „practical jokes“ des genialen Bauchredners, der schon 1951 die Wiener Presse mit der Erfindung des Inuit-Dichters Kobuk genarrt hatte, dessen Werkliste er mit Romanen wie Brennende Arktis und Theaterstücken wie Verlassener Kajak, Einsames Iglu und Die Republik der Pinguine ausgestattet hatte; sowohl der Autor, Anton Kuh, wie auch die dreizehn Stücke auf der Langspielplatte boshafte Auswüchse der blühenden Fantasie Qualtingers; Hans Weigels kurzer biografischer Begleittext bloß eine pointierte Beglaubigung der Finte.

Anton Kuh, 1926, Zeichnung von Emil Orlik
Anton Kuh 1926, gezeichnet von Emil Orlik

Als Scheichl in der Universitätsbibliothek die bei Band zehn (Kimchit–Lyra) steckengebliebene Encyclopaedia judaica (Berlin 1934) zur Hand nimmt, ist er, wie man so schön sagt, bass erstaunt. Der kurze Eintrag schafft Klarheit: „Kuh, Anton (Pseudonym: Anton), Journalist, Essayist und Kritiker, geb. am 12. Juli 1891 [sic] in Österreich, lebt in Berlin. In seinem Buche ,Juden und Deutsche‘ (1921) sieht K. das beiden Völkern gemeinsame in der ,Unnaivität, in der erotischen Befangenheit und Zwiespältigkeit und dem daraus entstehenden Selbsthaß‘; die bewußte Offensive gegen dieses gemeinsam Jüdisch-Deutsche sei Pflicht und Mittel der Selbsterlösung und Selbstüberwindung des Juden. Er veröffentlichte ferner: 1. Börne der Zeitgenosse (1921); 2. Von Goethe abwärts (Essays in Aussprüchen, 1922); 3. Der Affe Zarathustras (eine polemische Rede gegen Karl Kraus, 1925); 4. Der unsterbliche Österreicher (1930); 5. Physiognomik (Aussprüche, 1931).“

Anton Kuh: „Ich sehe leider: ob Hitler, ob Karl Kraus – es ist dasselbe.“

Zwanzig Jahre nach seinem Tod war einer der bekanntesten Literaten der Zwischenkriegszeit vergessen. – Vereinzelt, immerhin, war schon vor der „Wiederentdeckung“ Kuhs in den 1980er-Jahren auf ihn hingewiesen worden. Verstreut in Anthologien waren Texte von ihm zu finden, bevor sie 1963 gebündelt – „als kleiner Beitrag der Skepsis gegenüber gewissen literarischen Moden, als Narrengelächter über die unsterblichen Krausianer“ – erschienen. Dieser ersten posthumen Teilsammlung, Von Goethe abwärts. Aphorismen, Essays, Kleine Prosa, die, programmatisch, auch die Druckfassung der Stegreif-Polemik gegen Karl Kraus und die Krausianer „Der Affe Zarathustras (Karl Kraus)“ enthielt, blieb eine