Als ich zum ersten Mal Gedichte von Thomas Kunst las, dachte ich mir: So kann man heute keine Gedichte schreiben. Und als ich sie vom Dichter vorgelesen hörte, dachte ich mir: So kann man seine Gedichte nicht vorlesen. Und dann, nach diesen Schrecksekunden, die länger dauern als normale Sekunden, dachte ich mir: Was für eigentümliche, schräge, verrückte, todtraurige Gedichte, was für ein phantastischer Humor, was für eine ungeläufige, verschroben-anmutige Schönheit.
Thomas Kunst ist ein gelehrter Dichter, ein leidenschaftlicher Leser, ein hochgebildeter Bibliothekar und ein bunter Vogel, kindlich, ein Romantiker, den der Weltzustand beunruhigt, und der es versteht, diese Beunruhigung durch die künstlerische Form in Einsicht zu verwandeln und den Mut der Fantasie ins Spiel zu bringen.
Moralische oder politische Bewertungen liegen außerhalb des Horizonts oder des Interesses der durchwegs überdurchschnittlich intelligenten Romanfiguren.
In seinem Roman Freie Folge fand ich sofort zu viel ‚freie Folge, zu viel erzählerisches Einverstandensein mit der beschriebenen Jagdgesellschaft in Hohendreesen irgendwo in Norddeutschland, um dann zu verstehen zu beginnen, dass dieser Roman auf zweihundertfünfzig Seiten das Einverstandensein mit der Welt als Jagdrevier aus der Perspektive seiner Figuren erzählt. Nirgends mischt sich eine Erzählinstanz ein, die das Nein in diese Welt hineinschreit oder Fragen stellt, und wenn vielleicht doch, dann sehr verhalten, nicht leicht bemerkbar beim Lesen. Das Leben ist Überleben, und moralische oder politische Bewertungen liegen außerhalb des Horizonts oder des Interesses der durchwegs überdurchschnittlich intelligenten Romanfiguren. Die Romansprache gibt uns oft, auch durch die Faktizität der Jagdsprache, zu verstehen: Alles ist selbstverständlich und läuft wie geplant ab, wird hingenommen wie „die trophäenorientierte Abschusserfüllung“ in den Wäldern.
Die Familie gehört zur ökonomischen Elite, aber deren Lebensmodell dürfte das bestimmende der einverstandenen herrschenden Klasse weltweit sein. Der Familiensitz liegt in einem weit ausgedehnten Waldstück. Der Mann ist nur am Wochenende daheim, während der Woche ist er in einem weltumspannenden Finanzunternehmen tätig. Die Frau ist die Vorsitzende eines Waldbesitzerverbandes, die Kinder funktionieren perfekt, in der Schule wie zuhause, das rumänische Dienstmädchen kümmert sich um die beiden Hunde, auch sie, die Unruhigste, Freieste von allen, fügt sich in diese Ordnung ein und steht doch an deren Rand. Alles ist ganz normal in diesem Roman, auch die beiden Kinder sind wie andere Kinder, ihre Kinderzimmer sind eingerichtet wie die anderer Kinder, die Eltern verhalten sich zu ihnen reserviert liebevoll, und jeder in der beschriebenen Familie kommt „alleine klar“.
Perfekter Waffengebrauch
Nur legt die Mutter geheim in ihrem Zimmer immer wieder einmal das Foto des männlichen Kindes über das der Tochter. Und den Vater beschäftigt, wenn er am Wochenende von seinen globalen strategischen Finanztransaktionen aus der Stadt auf den Familiensitz heimkommt, die Abrichtung der beiden großen Münsterländer Hunde, die Jagd und die Vorbereitung der Kinder für die Treibjagd. Am Wochenende nimmt er sie manchmal in ein Schießkino mit, eine Art Hightech-Schießbude „mit elektronischer Trefferverbuchung“ und mit über die Leinwand jagenden Abschusszielen.
Die Kinder verschwinden, wenn sie ihre Schulaufgaben erledigt haben, mit den Hunden im Wald, bleiben dort lange, kehren aber immer pünktlich zurück. Alles ist auf die Jagd eingestellt, sie wird mit Akkuratesse betrieben, bis hin zu den Simulationen des perfekten Waffengebrauchs, in den die Kinder eingeübt werden. So nebenbei führt das Buch auch den Leser in die Techniken der Jagd ein. Das fachsprachliche Idiom trägt mit zur Sprachen- und Genrevielfalt des Romans bei, nur dass die Jagd, wie sie hier betrieben, studiert und perfektioniert wird, keine Romantik kennt, sondern eher an Verhaltenssteuerung, strategisches Kalkül und Naturbeherrschung denken lässt, auch das Abenteuerlichste, eine Hundeschlittenfahrt bei der Jagd auf die kostbaren Polarfalken in Grönland, wird zum Bild instrumenteller Effizienz. Es gelte dabei, „alle Tiere gleichmäßig anzustrengen“: „Du klopfst mit dem Peitschenstiel von links nach rechts auf der Klaviatur des Gespanns sämtliche Leinen durch und erkennst sofort, welches Tier die Absicht hat, die Kraft seiner Begleiter am effektivsten zu nutzen. Durch den Peitschenhieb spürt der Anführer sofort, welcher Hund von ihm durch einen Biß am Hals zur Ordnung gerufen werden muss.“ Fügt sich eines der Tiere nicht in die Ordnung der Riemen, wird es herausgeschnitten und seinem Schicksal überlassen.
Das einprägsamste erzählerische Bild für die Naturbeherrschung ist der Fang und die Abrichtung der weißen Polarfalken. Sie werden auf einer hart an die Grenzen des Überlebens gehenden Expedition gefangen – „ausgehorstet“ –, nach Deutschland gebracht und in einer riesigen, eisbedeckten Kühlhaushalle einem geradezu wissenschaftlich betriebenen Abrichtungsverfahren unterzogen. Der freie Flug des Raubvogels verspricht in der Welt der Geschäftemacher eine gewinnbringende Attraktion – und ist doch wieder mehr und weist über das Geschäft hinaus mit seiner Anmut beim Kreisen über den alten Rehspuren und seiner unvergleichlichen weißen Gefiederfarbe.
Verquere Gestalten
Es weht einen kalt an, wenn man das Buch liest, obwohl alle zentralen Romanfiguren, die Familienmitglieder und das rumänische Dienstmädchen, einander freundlich und tolerant gegenübertreten. Auch die zwei scharfen, gut abgerichteten Hunde gehören, unter dem Gesichtspunkt perfekten Funktionierens, zum familiären Ensemble. Das Gespenstische, das in der beschriebenen Normalität hervortritt, dürfte darin liegen, dass hinter allem und in allem das egoistische Überleben steht und unbewusst die modernen Verhaltens- und Denkformen bestimmt. Warum dennoch nicht der Eindruck entsteht, hier würde das sozialkritische Narrativ einer globalen Jagdgesellschaft abgespult, liegt an der sich im Roman behauptenden Sehnsucht, von der jede der einzelnen Romanfiguren affiziert ist. Wenn die moderne Jagd ein durchgehendes Motiv ist, so ist es genauso das nicht stillbare Verlangen nach Liebe, das jeden sich selber fremd werden lässt und ständig neue, fast immer verquere Gestalten und Verwandlungen des Eros hervorbringt.
Man möchte das Buch oft wegschleudern, aber man würde es wieder holen und wieder aufschlagen und würde staunend wieder neu zu lesen beginnen.
Am Schluss des Romans ist in den zerfallenden Städten an der Westküste der USA die Jagdgesellschaft umgeschlagen in
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