Trash und Tragik

Zwei Dominanten heutiger Belletristik. Grenzgänge der Literatur (IV). Von Felix Philipp Ingold
„… sich auszudrücken für nichts und wieder nichts.“

Online seit: 4. Mai 2020

„dichtung – nichd gut“
André Thomkins

Als der französische Philosoph und Publizist Gilles Lipovetsky in den frühen 1980er-Jahren die Heraufkunft einer „Ära der Leere“ (Ère du vide) annoncierte, wurde er von links wie von rechts als Kulturskeptiker, da und dort sogar als leichtfertiger Apokalyptiker, gerügt. Wer das Buch heute, fast vierzig Jahre danach, erneut in die Hand nimmt, ist frappiert von seiner bestürzenden Aktualität: Nicht nur im großen Ganzen, auch in zahlreichen Einzelheiten hat Lipovetsky souverän erfasst, was damals erst im Ansatz zu erkennen war, inzwischen aber machtvoll die Alltagswelt und, nicht zuletzt, die Welten der Kunst beherrscht.

Als die hauptsächlichen Symptome der überhandnehmenden Leere im Sozialbereich diagnostizierte der Autor Indifferenz, Selbstreferenz, Exhibitionismus, Verführung (statt Überzeugung), Beliebigkeit (statt Konsequenz), Infantilismus und Humorigkeit (statt Verantwortung und Problemlösung). Vorab Letzteres hat sich derweil in allen Lebensbereichen durchgesetzt, hat eine Spaßkultur entstehen lassen, die von der Werbeindustrie, den sozialen und individuellen Medien, der politischen und publizistischen Rhetorik gleichermaßen kolportiert wird: Trash ist Trend, ist Mode, ist aber auch „Kultur“ und als solche notwendigerweise sowohl auf Kurzweiligkeit wie auf Kurzlebigkeit getrimmt. Kürze, Unverbindlichkeit, Verfall – Quickies jedweder Art bis hin zu Selfies, Fastfood, Short Messages, Shopping-Touren, Graffiti-Aktionen oder „Sprachen lernen über Nacht“ sind als punktuelle Sensationen weithin gefragt. Moment und Event gerinnen zu permanenter Gegenwart.

„Es gibt so viele Schriftsteller, wie es noch nie gegeben hat“, meint dazu Nobelpreisträger Peter Handke: „Vor lauter Verzweiflung flüchten die Leute ins Schreiben.“

Als Signum der „Ära der Leere“  steht bei Gilles Lipovetsky der hedonistisch-konsumistische Narzissmus im Vordergrund. Dazu gehört nach seinem Dafürhalten der Vorrang des Akts der Kommunikation vor deren Inhalt und Bedeutung, die Liquidierung von Sinnhaftigkeit durch spielerischen Nonsense – man ist bestrebt, auf alles sofort zu reagieren, formlos und unbedacht, auch unbekümmert darüber, ob man den objektiven Fakten und der eigenen Meinung gerecht wird damit. Es geht nur noch um „die Möglichkeit und den Wunsch sich auszudrücken, egal, welcher Art die ‚Nachricht‘ ist“; es geht um „das Recht und das narzisstische Vergnügen, sich auszudrücken für nichts und wieder nichts, nämlich für sich selbst, aber eingebunden in ein Medium und durch dieses verstärkt“.

Lipovetskys Thesen (wie auch er selbst als Autor) sind zwar weitgehend vergessen, doch der Blick auf die derzeitige Lebenswelt und den Status der künstlerischen Literatur macht klar: Die weit zurückliegenden kulturkritischen Prognosen haben sich vollumfänglich erfüllt.

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Längst gibt es zwischen U- und E-Literatur keine rote Linie mehr, das U wird zum E gemacht, das E ins U verkehrt: Literatur verliert ihren Kunstcharakter, wird aber nicht, wie einst bei der nun schon „klassischen“ Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, als Anti-Kunst praktiziert, sondern lässig, bisweilen betont nachlässig als Nicht-Kunst vorgeführt − ein Gestus, den schon vor einem halben Jahrhundert Andy Warhol mit seinem Trash-Roman a vorgezeichnet hat und der nun offenbar, faute de mieux, reaktiviert werden soll. Für Warhol war klar, dass es künftig kein Können mehr brauchen würde, um sich als Künstler Aufmerksamkeit zu verschaffen, auch keine Originalität, schon gar kein Genie („jeder ein Künstler“); dass sich Kunst vielmehr – mit konsequent negativem Traditionsbezug – auf „unkünstlerische“ Verfahren wie das Kopieren, das Imitieren, das Plagiieren und Variieren verlegen werde, und dies unter bewusstem Verzicht auf Nachhaltigkeit, Sinnhaftigkeit und Langzeitwirkung, angelegt auf punktuelle Sensation („15 Minuten Weltruhm“) und persönliche Genugtuung.

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Die Unterscheidung von U- und E-, von „unterhaltender“ Trend- und „ernster“ Kunstliteratur ist derweil längst obsolet geworden; sie ist nicht mehr anwendbar und auch nicht opportun, da die Literaturschaffenden selbst an der Grenzverwischung interessiert sind und dafür auch bereits die passenden Techniken entwickelt haben. Diverse Internetforen und literarische Blogs, Lesungen und Workshops auf YouTube lassen erkennen, dass sich in den vergangenen Jahren eine weithin vernetzte Interessengemeinschaft junger und nicht mehr ganz so junger Autoren etabliert hat, denen an Spaß und Kitsch und Nonsense weit mehr gelegen ist als an literarischem Qualitätsanspruch oder für die allein schon der spielerische Gegenzug zu hergebrachten Qualitätskriterien zu einem Qualitätsmerkmal geworden ist.

Persönliche Präsenz und Performanz haben hier Priorität vor den Texten selbst, die ihrerseits zur Beliebigkeit, oft zu gewollter Unbedarftheit tendieren, nicht selten ergänzt durch infantil bewerkstelligte Illustrationen oder (beim Vortrag) durch amateurhafte Gesangseinlagen. Bemerkenswert bleibt, dass all dies nicht auf künstlerisches Versagen zurückzuführen ist; dass viele, die meisten dieser Trashpoeten literarisch weithin bewandert sind, den Ertrag ihrer Lektüren aber offenkundig als Ballast empfinden, den es konsequent zu verballhornen, dann abzuwerfen gilt.

Zu den Protagonisten dieses nun machtvoll sich durchsetzenden Trends zählen in Deutschland diverse Rap-Poeten, aber auch angeblich „dissidente“ beziehungsweise „exzentrische“ Dichterpersönlichkeiten wie Monika Rinck oder Nora Gomringer oder Ann Cotten, die nach eigenem Bekunden