Ein kosmopolitischer Patriot

Noch ein Lektüreversuch mit Jürgen von der Wense. Von Felix Philipp Ingold

Online seit: 27. Mai 2024
Jürgen von der Wense © Heddy Esche
Von Meinungen frei, gesellig mit den Sternen: Jürgen von der Wense. Foto: Heddy Esche / Blauwerke Verlag

Als Leser habe ich mir mit Jürgen von der Wense (1894–1966) lange Zeit schwergetan, und leicht fällt mir die Lektüre seiner disparaten Texte auch heute nicht. Was mir widerstrebt, mich skeptisch stimmt, ist vorab seine mythopoetische Neigung zu deutschen Landschaften, zur deutschen Erde und zum deutschen Wald, zu Gewässern, Wolken und Gestein, verbunden mit pathetisch überhöhter Rhetorik, aber auch mit kleinlautem Seelen- und Weltschmerz.

Erhöht wird die Irritation dadurch, dass sich Wense – als bekennender Provinzler und Einzelgänger – immer auch als Kosmopolit geriert, als ein Universalist, der alles besser weiß und tiefer fühlt als andere. „Mein Geist stammt aus einer kommenden Zeit, in der das Herz rein geworden ist“, notiert er 1938 in seinem Tagebuch; aber auch (als bekennender Nationalist): „Mein Glaube an Deutschlands Sendung ist so gross wie mein Glaube an Gott.“ Und noch 1966 hält er an seinem „Glauben“ fest, wonach „Kräuter aus deutscher Erde mehr vermögen als die ganze giftchemische Gewaltmedizin“. Mit Ausrufezeichen macht er hochgemut den Punkt: „… zum Siege sind wir geboren!“ Geboren aber auch zum Untergang.

Wense gibt sich gleichermaßen als Zukunftsoptimist und als Apokalyptiker, wenn er einerseits „die sternenlose Nacht des Über-Unmenschen“ herabsinken sieht, andrerseits aber sein Werk für katastrophenresistent, wenn nicht für unvergänglich hält. „Mir war, als wäre ich 1000 Jahre weiter auf Erden der letzte Mensch“, konstatiert er in einem Brief (oder in seinem Notizheft?) vom Juni 1949: „Mein Tag! Welche Seligkeit – mit einer neuen Sonne ein neuer Mensch! … Wenn Gott kommt, dann kommt er nach einem generalen Untergang!“

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So wie Jürgen von der Wense zu Fuß angeblich Tausende von Kilometern abgewandert hat, ist er auch weitläufig in unterschiedlichsten Wissenschafts- und Kunstbereichen zugange gewesen; er war Schriftsteller, Komponist und Fotograf, hat sich autodidaktisch ein halbes Hundert Sprachen angeeignet, dazu auch seriöse Kenntnisse in Philosophie, Biologie, Ethnologie, Medizin, Geografie, Geologie, Mineralogie, Archäologie, Ägyptologie, Mathematik, Physik, Meteorologie, Musikologie usf. – sein multidisziplinäres Werk liegt in diversen Auswahlbänden vor, doch ist der Großteil davon (der Nachlass umfasst zirka 60.000 Schriftseiten) noch immer unpubliziert. Mit stetiger „Ehrfurcht“ und „frommem Schauder“ hat er nach eigenem Bekunden architektonische, landschaftliche wie auch schriftliche „Heiligtümer“ betreten, von ältesten Epen und Liedern bis hin zu Novalis. „Mir sind alle Dinge heilig weil ich sie erlebe“, unterstreicht er in einem seiner letzten Briefe: „Mein Werk – nur Opfer. Aber die Nachwelt, wenn es noch eine gibt, wird mich erkennen …“

Jürgen von der Wenses multidisziplinäres Werk liegt in diversen Auswahlbänden vor, doch ist der Großteil davon noch immer unpubliziert. Der Nachlass umfasst zirka 60.000 Schriftseiten.

Die Schriftstellerei, praktiziert als unablässige, oft redundante Schreibbewegung, wird hier als persönlicher Opfergang beglaubigt, dessen