Ich frage mich, was mich dazu gebracht hat, diesen Titel zu wählen. Bevor der Text überhaupt geschrieben war. Ein paar Tage lang habe ich vollkommen problemlos mit dieser – zugegeben etwas reißerischen – Überschrift gelebt. Unbehaglich wurde sie mir erst und interessanterweise in dem Moment, als sie nicht mehr rückgängig zu machen war. Sie stand da, und ich musste mich fragen, was sich dahinter verbirgt.
So ist es häufig. Ein Satz kommt, sehr schnell, eine Zeile oder ein Titel, und dann muss ich ergründen, was er von mir will. Was das betrifft, glaube ich eher nicht an Zufälle.
Um es gleich direkt anzugehen. Warum Scherben?
Beginnen wir mit dem Naheliegenden. Etwas zerbricht, klar. Auf einer ersten, vielleicht sogar der allerersten Ebene (was den Prozess des Schreibens betrifft) hat es damit zu tun: Wer schreibt, handelt. Nicht erst meine letzten beiden Bücher haben mir dafür einen Beweis geliefert. Wer „eng am eigenen Leben entlang“ schreibt, wie es heute oft heißt, wer Ich sagt und andere in dieses Spiel mit hineinzieht, muss sich bewusst sein, dass dieses Schreiben Konsequenzen hat. Beziehungen verändern sich, werden manchmal sogar zerstört. Andere Menschen, nahestehende, ja geliebte Personen sind verletzt, wenn sie sich in einem Buch wiedererkennen. Was für den Schreibenden – mich! – Ergründung, Klärung, geformte Existenz bedeutet, ist für den anderen, den Beschriebenen, nicht selten die Überschreitung einer Grenze, womöglich sogar Verrat. Ich handle durch das Veröffentlichen eines autobiografisch durchfärbten Buches, und manchmal handle ich vielleicht mehr, als mir lieb ist. So ist es.
Offenbar geht es nicht anders. Ich will es gleich vorwegnehmen. Als Schreiberin autobiografischer Stoffe bin ich nicht die harmlose Beobachterin des eigenen Lebens. Oft erkennt man erst in der Zerstörung, in den Scherben und deren Neuanordnung, eine bestimmte Wahrheit. Anders komme ich nicht an die Dinge heran, wie mir scheint.
Andererseits: Wenn man ehrlich ist, ist dieses vermeintliche Ganze eigentlich nie da. Etwa eine heile Welt, die zerbricht, oder die man schreibend bewusst zerstören würde. Leben wir nicht permanent mit Bruchstücken, von Anfang an? Mit Unvollständigkeiten, biografischen Brocken, auch mit verschiedenen Sprachen, Sozio- und Idiolekten, mit Halbverschwiegenem und vagen Erinnerungen? Instinktiv wissen wir es. Wir sind nur der Scherbenhaufen einer Menge anderer Existenzen, die uns verletzt oder geliebt und auf eine bestimmte Weise gefärbt haben. Wir betrachten die Welt laufend durch Scherben, wir heben sie vors Auge, und mal liegen sie besser in der Hand, mal nicht ganz so griffig. Wir erzählen uns die eigene Geschichte, indem wir sie zu verschiedenen Mustern zusammenlegen. Und meistens fehlt etwas, wenn wir diese Muster betrachten, das heißt: wenn wir über die Welt und uns darin nachdenken. Also ergänzen wir es. Wir erfinden, auf dass ein triftiges Bild entsteht.
Dies ist, was ich tue, meine Arbeit als Schriftstellerin, die Erzählungen und Romane verfasst.
Das Leben ist kein Quilt
Ohne mich zur Sklavin meiner eigenen Metapher machen zu wollen, erscheint mir das Bild der Scherben für das Leben und damit auch für die Literatur, die aus diesem Leben entsteht, doch viel zutreffender als etwa die Vorstellung eines amerikanischen Quilts, in dem die einzelnen Teile aufs Schönste miteinander verwoben und vernäht sind, sodass zuletzt eine wunderbar gemütliche, ein wenig pittoreske Decke entsteht. Ich empfinde eher die Gefährdung beim Schreiben, eine gewisse Scharfkantigkeit, mit der man – nein ich! – die Teile anfasse, um sie genau zu betrachten, aber auch das Funkeln, das entsteht, wenn sie richtig, das heißt auf eine besondere, neue Art zusammengelegt werden.
Wie mir auffällt, habe ich das Ich in einem Großteil meiner Geschichten, die zu Büchern wurden, als Mittel der Selbsterforschung gebraucht. Ich gebrauche es noch immer so. Rein technisch betrachtet wäre es natürlich auch anders möglich. Das Ringen mit der Welt, eine direkte und möglichst kompromisslose Auseinandersetzung mit der Geschichte, die man als Schriftstellerin über das eigene Leben erzählt, lässt sich auf vielerlei Weise angehen. Fest steht: Ich habe es viele Male anders versucht. Aber letztlich bin ich immer zu ihm zurückgekehrt, zu diesem Ich, das eine fiktive Version meiner selbst ist. (Um sich den Verwandlungsprozess klarzumachen, denke man etwa an den amerikanischen Comedian Jerry Seinfeld, der in der Sitcom Seinfeld eine Kunstfigur namens Jerry Seinfeld spielt.)
Rückblickend scheint alles leicht und selbstverständlich. Aber das war nicht immer so. Ich erinnere mich an meine Jugend, als ich nicht genau wusste, ob und wie ich überhaupt Künstlerin sein konnte. Und wenn ja, ließ sich so einfach Ich sagen? Und wenn ja, wovon konnte dieses Ich überhaupt erzählen?
Die Bücher, die mich in meiner Kindheit tief beeindruckten, waren oft Heldengeschichten. Sie spielten im Zweiten Weltkrieg, der in den Geschichten meiner Großeltern, in der Literatur und im Film und auch im Anblick vieler Städte auf konkrete Weise noch herumgeisterte. Dieser Krieg war ewig nah, und genauso nah waren mir die Geschichten der Spione und Kämpfer, der mutigen Menschen, darunter sehr oft Kinder, die in einer gefährlichen Zeit Widerstand geleistet hatten. Ich habe erst viel später verstanden, wie sehr mich diese Lektüren, in denen es immer um Leben und Tod ging, geprägt haben. Obwohl oder vielleicht gerade weil ich selbst in einem äußerst langweiligen Staat lebte, noch dazu in einer äußerst langweiligen Kleinstadt, bedrängten mich die moralischen Fragen aus diesen Büchern. Ich sah mich vor schwerwiegende existenzielle Entscheidungen gestellt. Eine davon hieß: Wie würdest du handeln, wenn es hart auf hart kommt?
Ich, ich, ich sollte niemand rufen
Schließlich kam es auf mich an. So lautete die unausgesprochene Bestimmung damals: Niemand steht außerhalb. Man ist immer verstrickt. Ja, auf den Einzelnen kam es an, durchaus, aber nicht, wenn dieser Einzelne sich für einzigartig, gar für etwas Besseres hielt und sich abseits stellte. Ich, ich, ich – sollte niemand rufen, außer, wenn er mit seinem Handeln der sogenannten Sache diente (was auch immer das war). Ein Individuum – dieses Wort war in meiner Kindheit ein Schimpfwort, für Menschen, die sich nicht einfügen wollten, die eine Extrawurst gebraten haben wollten, die aus der Reihe tanzten, ach, ich könnte viele Bilder finden für diese so fernen, absurd anmutenden Auffassungen einer absurd fernen Zeit.
Das Problem war: Mein eigenes Ich kam mir gegenüber den heroischen Menschen in den Büchern, die ich so gerne las, höchst wankelmütig und schwach vor, ja geradezu feige. In der Fantasie stellte ich mich permanent auf die Probe. Das Ergebnis sah eindeutig nicht gut aus. Ich war keine Heldin oder besser gesagt: Ich wäre keine, wenn es eines Tages drauf ankäme.
Niemand kann wissen, was genau uns im Leben auf eine bestimmte Spur setzt, aber ich halte diese inneren Selbstbefragungen für eine erste unbewusste Lektion darüber, wie komplex Menschen sind. Und ich danke es noch heute Thomas L., einem Mitschüler an der Erweiterten Oberschule (später Gymnasium), der offenbar in dieselbe Richtung wie ich dachte, aber viel mutiger voranpreschte, als er im Deutschunterricht der neunten Klasse auf das damals gängige Aufsatzthema: Du bist ein Mensch – beweise es! gerade nicht moralisch konform antwortete, sondern aus dem Roman Nackt unter Wölfen ausgerechnet den Feigling herauspickte, um anhand dessen verräterischen Handlungen in einem KZ den allumfassenden Menschen zu belegen.
Thomas L. bekam
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