Der Zwang zum Gefühl

Aus Anlass von Moritz Baßlers Realismus-Betrachtung der Gegenwartsliteratur. Von Ernst-Wilhelm Händler

Online seit: 22. April 2023
Wednesday Addams © Netflix
Role Model für Ernst-Wilhelm Händler: Wednesday Addams. „Man möchte lieber ihr Duschgel im Badezimmer haben als dasjenige von Mose­bach.“ Foto: Netflix

Noch niemals in der Geschichte der Menschheit hat es ein derart großes nicht-faktuales Erzählangebot gegeben. Die ständig fortschreitenden Medien-Technologien und ihre Ökonomien haben das möglich gemacht. Literatur, Film und Fernsehserie befinden sich in einem Pool miteinander im Wettbewerb stehender Varianten. Die bildende Kunst nimmt eine vergleichbare Entwicklung. Das ständig wachsende Angebot an zu verkaufender Kunst für die ökonomisch aktiven Kunstkonsumenten korrespondiert mit der fortgesetzten Ausweitung der von den Museen erbrachten Leistungen für die ökonomisch passiven Kunstinteressierten. Museen wollen nicht mehr nur Kunst zeigen, sie wollen so offen wie möglich für Wissenschaft, Soziologie und ethnologische Zusammenhänge sein.

Die Literaturwissenschaften haben sich seit jeher auch dem Ordnungsgedanken und der Überblicksdarstellung verschrieben. Es ist nur begrenzt kurzweilig, Literaturwissenschaft vornehmlich als das Eindringen in die Gehirnwindungen jeweils einzelner Autoren und Autorinnen zu betreiben. Ein aktuelles, prinzipiell löbliches Beispiel für eine synoptische Darstellung ist Moritz Baßler. Der Titel seiner Betrachtung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur lautet Populärer Realismus, der Untertitel Vom International Style gegenwärtigen Erzählens (2022). Es ist allerdings kaum möglich, die gegenwärtigen literarischen Erzeugnisse im deutschen Sprachraum mit einer Überschrift zu versehen, die weniger zutreffend wäre.

Breiter Zugang zur Literatur

Nach Baßler ist der International Style des Erzählens identisch mit dem Populären Realismus, der darin besteht, einen möglichst breiten Zugang zur Literatur zu ermöglichen. Wenn es tatsächlich so etwas wie einen internationalen Stil deutschsprachigen Erzählens gäbe, dann müsste sich das in der internationalen Verbreitung deutscher Literatur niederschlagen. Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979), Patrick Süskinds Das Parfum (1985) und Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995) kann man nicht mehr zur Gegenwartsliteratur zählen. Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) war ein internationaler Bestseller, aber danach kam nichts. Die deutschsprachige Literatur spielt international kaum eine Rolle, Ausnahmen sind Thomas Bernhard, Peter Handke und die Fantasy-Autorin Cornelia Funke. Deutschsprachige Prosa wird in der Regel nur spärlich, als Versuchsballon, übersetzt. Der International Style findet sich woanders: etwa bei Kazuo Ishiguro. Der das rare Kunststück vollbringt, mit einfachem Vokabular und unkomplizierten Sätzen komplexe literarische Konstellationen zu entwerfen.

Die US-amerikanischen Autoren und Autorinnen schreiben nicht international, sondern sie dominieren die Literatur inhaltlich über den American Way of Life. Keineswegs alle Bücher sind so gut wie Don DeLillos Point Omega (2010), Jennifer Egans A Visit from the Goon Squad (2010), die IRS-Oper The Pale King von David Foster Wallace (2011) oder The Flamethrowers (2013) von Rachel Kushner. Eine Enttäuschung übrigens Stella Maris (2022) von Cormac McCarthy. Hier wird Mathematik berichtet, aber nicht erlebt.

Als Auswirkung der kolonialen Vergangenheit ist die englische Literatur seit langer Zeit wesentlich migrantisch geprägt. Der Verlust von Hilary Mantel ist nicht zu kompensieren. Den qualitativen Abstand ihrer historischen Romane zu historischen Romanen aus dem deutschen Sprachbereich kann man kaum in Worte fassen. Ein absolutes Highlight ist der Migrantenroman By the Sea von Abdulrazak Gurnah (2001): Er macht Verlorenheit in der Welt literarisch erfahrbar.

Die französische Literatur wird international im Augenblick mehr oder weniger mit dem Houellebecq’schen Kulturkampf gegen den Islam gleichgesetzt. Sehr praktisch für den Westen, dass ein ausgewiesener Intellektueller formuliert, was einem Nicht-Intellektuellen nicht über die Lippen gehen dürfte. Warum wird ein intelligenter, theoretisch gewitzter Roman wie La septième fonction du langage von Laurent Binet (2015) nicht auch breit wahrgenommen? Gut geschriebene Romansolitäre aus anderen Literaturen wie etwa Il colibri von Sandro Veronesi (2019) bleiben folgenlos, sowohl für die Bestsellerlisten als auch für die internationale Diskussion.

Kehlmann & Mosebach

Baßler möchte seine These vom Realismus als Kern des International Style mit dem untermauern, was man als das literarische Kehlmann-Mosebach-Irrelevanzproblem bezeichnen könnte. Baßler hält Kehlmann und Martin Mosebach explizit vor, dass sie eine Bedeutsamkeit ihrer Texte vorgaukeln, die sie literarisch nicht einlösen. Aber die Methode Kehlmanns und Mosebachs hat mit Realismus nichts zu tun. Realismus ist eine Bezeichnung von Verfahren, die eine eindeutige Wirklichkeit, die Wirklichkeit, postulieren oder besser stipulieren. Die nach Baßler realistischen Autoren interessieren sich jedoch nicht für Wirklichkeiten. Ihr Material sind umweglos die Erwartungen der Leser. Kehlmann und Mosebach entwerfen nicht Welten, sondern geben den Erwartungen der Leser bestimmte, von diesen erwünschte Formen. Im Falle von Kehlmann und Goethe aus der Vermessung der Welt ist das so offensichtlich wie peinlich: „Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein. / Alle sahen ihn an. / Fertig, sagte Humboldt. […] Mit einer schnellen Bewegung packte er den Affen, der gerade versucht hatte, ihm die Schuhe zu öffnen, und steckte ihn in den Käfig.“ Dagegen ist der Film Fack ju Göhte (2013) aufklärerisch. Bei Kehlmann wird Bildung lächerlich gemacht, im Film wird in der Summe ein Bildungsideal verfolgt.

Was Baßler für Realismus hält, ist keiner. Vielmehr ist die Methode Kehlmanns und Mosebachs das generische Erzählen. Man beschreibt Dinge, Menschen und Vorgänge auf derart allgemeine Weise, dass der Leser und die Leserin null Aufwand treiben müssen, um sich in den jeweiligen Szenen zurechtzufinden. Einzelheiten erfordern kognitiven Aufwand sowohl auf der Produzenten- als auch auf der Rezipientenseite, den ersparen sich die Beteiligten. Baßler führt die Badezimmer-Szene an aus Mosebachs Blutbuchenfest (2014) an: „Ivana ging in das große helle Badezimmer von Frau Markies und ließ warmes Wasser in die Wanne. Das Fenster war in der unteren Hälfte mit Milchglas versehen, durch die obere drang ungebrochen Sonnenlicht ein. Wie viele moderne Menschen ließ Frau Markies, deren Umgebung sonst von teurer Sparsamkeit geprägt war, in ihrem Badezimmer einen gewissen Luxus zu. Spiegel bedeckten die Wände, um den Körper der hier Badenden von allen Seiten zu präsentieren.“ Darauf zitiert Baßler den „Wald von Flaschen und Tiegeln“ und bemängelt, dass Mosebach keine Logos und Markennamen nennt. Er schlägt Balea Vita Body, Garnier Fructis oder L’Oréal vor. Marken, die so hip sind wie Mosebach. Der kollusive literaturwissenschaftliche Geruch von Sex-Fantasien alter Männer drängt sich auf.

Statt die Realitäten ihrer jeweiligen Gegenwarten zu erschreiben, verkünsteln Kehlmann und Mosebach die Erwartungen ihrer Leser und Leserinnen mit Anspielungsschnörkeln auf Goethe und Valéry. Mosebachs Roman beginnt mit: „Die Markies verließ um fünf Uhr das Haus […].“ Kehlmann und der wehrlose Goethe, Mosebach und der unschuldige Valéry – wer gewinnt den Peinlichkeitswettbewerb?

Naturgemäß erschöpft sich das generische Erzählen nicht im Beschreiben. Generisches Erzählen vermeidet primordial, Leser und Leserinnen zu stressen. Alles, was in Richtung Analyse und Theorie geht, wird sorgsam gemieden. So ist etwa das Mosebach-Personal immer dieselbe Mischung aus vormals vermögendem Bürgertum, das verstaubten Kunsttheorien nachhängt, sowie migrantischen Dienstboten. Kehlmann bleibt entweder in der fernen Vergangenheit, oder er verbindet vorgeblich große wissenschaftliche Gedanken mit generischem Wortgeklingel: „Er fühlte, wie etwas klar wurde. / Eine schimmernde Struktur von Zahlen. Sie wuchs, bildete neue Kristallflächen, ein System gläserner Schönheit, und er sah zu und verstand […]“ (Mahlers Zeit, 1999). Das hat nun wirklich überhaupt nichts mit Realismus zu tun. Es gibt sehr viele persönliche Betrachtungen von Mathematikern und Physikern. Kein Mathematiker und kein Physiker würde die subjektiven Erfahrungen bei seiner Tätigkeit auch nur so ähnlich beschreiben.

Seltsamerweise, aber vielleicht auch erwarteterweise sieht Baßler die Fantasy-Literatur als „Inbegriff des Populären Realismus.“ „In Fantasy kommt Realismus zu sich selbst.“ Der Inhalt von Fantasy spiele keine Rolle. So sei Tolkiens The Lord of the Rings einfach nur eine gut funktionierende Struktur ohne Bedeutung. Falscher geht’s nicht. Der Zweck von Fantasy-Welten ist gerade nicht schrankenloser Eskapismus. Vielmehr sind Fantasy-Welten in der Regel gezielt so gestaltet, dass sie den Protagonisten erlauben, Role models für Leser und Leserinnen zu sein. Erst kommt der Charakter, dann die Welt, in der sich der Charakter behauptet. Das Standardbeispiel ist der harmlose Hobbit Bilbo Baggins aus dem Shire, der einen nicht hinwegzudenkenden Beitrag leistet, das Böse in Middle-Earth zu besiegen. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Hier soll nicht behauptet werden, dass Fantasy nichts anderes leistet als Gaby-Hauptmann-Romane. Gute Fantasy öffnet Augen, gute Fantasy löst die fundamentalste aller intellektuellen Forderungen an die Literatur ein: „Die Forderung, Dichtung habe die Realität neu zu definieren.“

„I don’t do tears.“

Eine aktuelle Version dieser literarischen Strategie ist Wednesday Addams aus der Fernsehserie Wednesday von Tim Burton für Netflix (2022). Die immer schwarz gekleidete Wednesday ist niemals lazy. Sie schreibt Romane, wobei es sie nicht interessiert, ob sie einen Publisher hat oder nicht, sie ficht und spielt Cello, dekorativerweise Paint it Black von den Rolling Stones. Sie hat Italienisch gelernt, um Machiavelli im Original zu lesen. Der ihr oktroyierten Psychotherapeutin schleudert sie entgegen: „I don’t do tears.“ Sie gehorcht niemandem, aber sie tritt für ihre Freunde und Freundinnen ein, und sie rettet die magische Nevermore Academy vor dem Untergang. Man möchte lieber Wednesdays Duschgel als dasjenige von Mosebach im Badezimmer haben. Nicht vergessen: In Deutschland gibt es noch die ethisch einwandfreie Alternative Weleda. Der ethische Stammbaum von Weleda ist impeccable: das Reformhaus.

Der Verfasser dieser Zeilen, ein junger, zorniger – straighter – Analytiker, gibt zu: Wednesday Addams ist genau sein Role model. Die Schauspielerin Jenna Ortega über ihren Regisseur Tim Burton: „A sweet little guy!“

Ein Einwand liegt nahe: Den Ausschlag geben schließlich persönliche Geschmacksurteile, sowohl auf der Produzenten- als auch auf der Rezipientenseite. Mosebach und Leser finden das Bürgertum des Frankfurter Westends geil, Kehlmann fantasiert im nicht mehr existierenden Bildungskanon, den seine Leser gern noch hätten, Burton stillt das Bedürfnis nach einer schickeren und subversiveren College-Serie. Den Ausschlag geben immer persönliche Geschmacksurteile. Aber es gibt einen objektiven Unterschied zwischen Kehlmann und Mosebach auf der einen und Burton auf der anderen Seite: Burton erzählt genrekonform, aber niemals generisch. In seinem Werk ist Burton unablässig bemüht, die Genre-Schraube weiterzudrehen. Naturgemäß nicht jedes Mal mit demselben Erfolg. Burtons Erzählen reflektiert sich zu jeder Zeit selbst. Generisches Erzählen kann sich nicht selbst reflektieren, wenn es das tut, dann ist es nicht mehr generisch.

Welche ist nach Baßler die lesenswerte Vielfalt der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur? Eine Tetralogie aus: traumatisierenden migrantischen Erfahrungen – Hengameh Yaghoobifarah –, einem Kalkülroman – Dietmar Dath –, dem guten Leben – Leif Randt – und einem Heldinnenepos, Anne Weber. Offensichtlich keine Lösung ist die Logorrhoe – pardon, „die Parrhesia vom Prenzlauer Berg“, Anke Stelling. Keine Lösung auch Juli Zehs Kombi aus Zeitgeist und Anti-Ironie.

Zum Ministerium der Träume (2021) stellt Baßler treffend fest: „Yaghoobifarah gelingt es, ihre Erfahrungen und ihr historisches Wissen in Literatur zu verwandeln.“ Das Buch ist auch ein Krimi: Die Polizei informiert Nus, dass ihre Schwester Nushin tot ist. Nus glaubt nicht an einen Unfall, sie vermutet Suizid. Baßler betont, dass der Roman die Traumata der Migrations-Familiengeschichte nicht voraussetzt, sondern in der Handlung entwickelt. Außer dem Horrorfilm Scream V – einem Requel, das die Serie rebooted – ist mir keine andere aktuelle Erzählhandlung gewärtig, die die kompletten Möglichkeiten eines Genres derart konzentriert produktiv einsetzt.

Terror-Dichter

„Die paralogische Welt der Marke CobyCounty ist auf ihre Weise perfekt, so wie Leif Randts Buch selbst stilistisch perfekte Pop-Literatur ist“ (Schimmernder Dunst über CobyCounty, 2011). Nicht nur Baßler lobt Randt aus den falschen Gründen. Die Kritik betont immer wieder, dass der Begriff des Affirmativen in Bezug auf die Wohlstandsgesellschaften Randts sinnleer sei, weil es die Differenz affirmativ-kritisch bei Randt nicht gebe, weil alles affirmativ gemeint sei. Das stimmt so nicht. Es bleibt nach wie vor dem Leser und der Leserin überlassen, etwas in dem Buch affirmativ oder kritisch zu finden. Tatsächlich geht es um etwas anderes: um den Terror der totalen Schönheit. Das Dasein als Nicht-Ästhetisches ist nicht auszuhalten. Siehe Mosebachs Badezimmerbeschreibung. Aber wenn nichts Nichtästhetisches mehr übrig ist, ist das genauso wenig zu ertragen. Das ist der Spell über Randts Personal, den kein Warlock aufheben kann. Der totale ästhetische Terror hat nichts mit Pop zu tun. Randt ist der aktuelle Terror-Dichter und als solcher eher ein legitimer Nachfahre von Bret Easton Ellis mit Less than Zero (1985) und American Psycho (1991).

Kein post pragmatic joke im Geiste Randts: Schöne Analysten und Analystinnen geben die besseren Aktienempfehlungen. Forscher und Forscherinnen der School of Accountancy der Chinese University of Hong Kong haben in einer empirischen Studie nachgewiesen, dass Schönheit einen positiven Einfluss auf die Performance von Finanzanalysten hat. Attraktive Analysten und Analystinnen liefern genauere Gewinnprognosen für Unternehmen. Unabhängige Betrachter und Betrachterinnen entschieden über die Schönheit der Analysten und Analystinnen, korrelative Einflüsse auf Leistungsunterschiede wurden per Regressionsanalyse ausgeschlossen. Die von den Forschern bevorzugte Erklärung: Gut aussehende Personen gewinnen leichter das Vertrauen von in den Unternehmen wichtigen Ansprechpartnern, sie kitzeln mehr Information aus Menschen heraus als weniger gut aussehende Personen. Eine andere Studie zeigt, dass in der Werbebranche attraktive CEOs größere Gewinne erwirtschaften. Leif Randt und kein Ende.

Gentzen oder: Betrunken aufräumen (2021) ist ein phänomenaler, unbedingt lesenswerter Essay. Aber kein Roman. Die Passagen, in denen der Autor seine Arbeit bei der FAZ und Frank Schirrmacher beschreibt, sind großartige Literatur. Alles andere ist in hohem Maße Bad painting. Laut Baßler entwirft Dath mit Gentzen oder: Betrunken aufräumen eine Theorie des Romans als Möglichkeitsmaschine und löst sie zugleich exemplarisch selbst ein. Tatsächlich stellt sich jedoch bei den fiktiven Handlungssträngen permanent die Frage: Warum so und nicht anders? Das trifft auch für Daths andere Romane zu, Ausnahme: Dirac (2006). Hier determiniert der naturwissenschaftliche Inhalt in höherem Maß die Handlung. Der Autor möchte aus Logik, Mathematik und dem Comic-Universum Literatur machen, das gelingt nicht. Seufz! Was allerdings die Wichtigkeit zahlreicher philosophischer Einsichten Daths in sonst nicht untersuchte Zusammenhänge in keiner Weise schmälert. Wer einem Roman als Möglichkeitsmaschine bei der Arbeit zusehen möchte, der lese Musils Mann ohne Eigenschaften (1930) oder Julio Cortázars Rayuela (1963) – keine Gegenwartsromane.

Ärgerlich in Daths Buch sind infantile Aggressionen, wenn es um reiche Leute und um bildende Kunst geht, sowie eine völlige Vernageltheit gegenüber allen Argumenten, die gegen den Marxismus sprechen. Das sind ziemlich viele. Wer den Marxismus propagiert, verteidigt auch die Dinge, die Warlam Schalamow beschreibt. Denjenigen, die umgebracht werden, kann es egal sein, ob die Rechtfertigung die rechte oder die linke Scheiße ist. Selbst wenn es kein Roman ist, es ist trotzdem der mit Abstand beste Roman des Autors. Völlig unpolemisch stellt sich die Frage: Warum macht jemand, der erklärtermaßen jede Art von Kunstwillen verabscheut, Kunst?

Im Übrigen: Jeder Popsong ist kritischer als Dath & Co. Cf. eg. Chandelier von Sia: „Party girls don’t get hurt / Can’t feel anything, when will I learn? / I push it down, I push it down […] One, two, three, one, two, three drink / One, two, three, one, two, three drink / One, two, three, one, two, three drink […] Feel my tears as they dry / I’m gonna swing from the chandelier“.

Wie das Heldinnenepos Annette von Anne Weber (2020) auf irgendeine Positivliste geraten kann, bleibt ein Mystikum. Man nehme einen beliebigen Ausschnitt aus dem Werk, eliminiere die Zeilensprünge und schreibe die Sätze unmittelbar hintereinander. Man erhält einen Text, für den sich akut die Frage der Literarizität stellt. Man sollte nicht Bertolt Brechts „Radwechsel“ zum Entsatz anführen. Der Text stammt aus einer anderen Zeit. Außerdem macht ihn das Universale auch ohne Zeilensprünge poetisch. Die Original-Heldin des Heldinnenepos zeigte sich ziemlich ratlos gegenüber der Sprachübung. Sie konnte keinen wie auch immer gearteten intellektuellen oder emotionalen Surplus ausmachen.

Ist eine andere Logik als das Patchwork bei der synoptischen Betrachtung von Literatur möglich? Die Ökonomie legt nahe, dass jede literarische Nische auch bewirtschaftet wird. Insgesamt ist die ökonomische Situation der Literatur jedenfalls nicht so dramatisch, dass ständig Verlage die Schotten dichtmachen müssten. Die von der US-amerikanischen Kartellbehörde untersagte Übernahme von Simon & Schuster durch Penguin spricht nicht dafür, dass man mit Büchern gar kein Geld verdienen kann. Nischen werden aus zwei Gründen bespielt: Erstens, weil man sie bespielen kann. Auch für größere Verlage mit größeren Overheads sind kleinere Auflagen rentabler als früher. Zweitens, weil man nie weiß, ob aus der Nische nicht vielleicht doch ein Mega-Markt wird, der Lotteriegedanke. Die Summe der Nischen ist nur als Patchwork darstellbar.

Das Patchwork des Erzählens ist nicht lediglich ein Orientierungsproblem unter vielen. Die Überfluss-Ökonomie hat die Bühne für eine genuine anthropologische Veränderung geschaffen. Literatur ohne Gefühle ist keine. Literatur ist gemäß Gefühlen organisiert, und es gibt eine ständige Rückbindung des Erzählten an Gefühle. Nichts anderes gilt für die visuell erzählenden Medien. Jede Erzählung ist ein Gefühlsangebot: etwas auf eine bestimmte Weise vermittelt zu erleben. Das herkömmliche Gefühlsumfeld des Menschen bestand aus direkten Kontakten zu Mitmenschen und aus vermittelten Erlebensangeboten, die in offiziellen und nichtoffiziellen Kanons organisiert waren. Hier ist auch an die klassischen Heldenepen und an Teile der Geschichtsschreibung, an die Gedichte der lateinischen Klassiker und an die mittelalterliche Minnelyrik zu denken. Jedoch haben die Gegenwartsliteratur und die Fernsehserie diese Gefühlsangebote in einem Ausmaß ausgeweitet, das neu ist.

Appell zur Gefühlsbindung

Vergleichbar bis entsprechend die bildende Kunst. Jedes auf den expandierenden Primär- und Sekundärmärkten angebotene Objekt ist ein Appell zu einer Gefühlsbindung. Dabei entstehen die Objekte der bildenden Kunst zunehmend zwischen Malerei, Skulptur, Fotografie, Film, Design sowie Theater und Performance. Eine Flucht ins Digitale gibt es nicht. Weder ins digitale Erleben noch in ökonomischer Hinsicht, NFTs spielen nicht einmal eine marginale Rolle. Artificial Intelligence soll anschaulich sein: wie etwa BOB von Ian Cheng (2018–2019), dessen visuelle Repräsentation eine chimärische Schlange ist. BOB wächst, lernt, spielt, defäziert, bleibt stecken und muss sich rebooten. Die Museen setzen alles daran, dass sich die Menschen physisch begegnen. In der Turbine Hall der Tate Modern in London campieren die Besucher mittlerweile. Im Museum sollen die Menschen nahezu um jeden Preis kommunizieren. Stilprägend ist hier der Schweizer No-Break-Kurator Hans Ulrich Obrist, über den eine deutsche Kunstzeitschrift schrieb: „[…] nie sieht man ihn nicht kommunizieren.“ Niemand führt längere und mehr Interviews, niemand ist auf mehr Panels präsent.

Die Summe der Gefühlsangebote führt zu einem Gefühlszwang. Die große literarische und kulturelle Leistung von Peter Handke besteht darin, Modelle für nicht ambige, aber trotzdem nicht unterkomplexe Kanalisierungen des Gefühlszwangs anzubieten. In seinem erzählerischen Werk ist der Filter die Landschaft und ihre kollektive und individuelle Geschichte. In seinen Notaten projiziert er die Vielzahl der Wahrnehmungsmöglichkeiten des Wanderers und des Spaziergängers zurück auf seinen eigenen emotionalen Werdegang, in dem das Kulturelle nur sparsam vorkommt. Die Notate sind immer auch die Abbildung von Wahrnehmungen auf Wahrnehmungen. Ein Fixpunkt ist ein Punkt, der im Rahmen einer bestimmten Abbildung auf sich selbst abgebildet wird. Handke versucht, über die unablässige Formulierung von – literarischen – fixed point theorems ein Wahrnehmungsgleichgewicht herzustellen, das auch ein Gefühlsgleichgewicht sein soll.

Baßlers Realismus-Fixierung soll einen Ausweg aus der Patchwork-Herausforderung bieten, doch der ist nicht gangbar. Die Literaturwissenschaftler möchten, dass in der Literatur eine Vorsehung waltet. Aber das ist nicht der Fall. Zwei Alternativen der Systematisierung von Literatur bieten sich an: nach dem Aufregungspotenzial oder nach der Art und Weise der Produktion des Menschen. Die intellektuell anspruchslose Systematisierung ist die Einordnung von Literatur nach ihrem Aufregungspotenzial. Sie folgt der falschen Gleichung Gefühl = Aufregung.

Stella von Takis Würger (2019) bot eine nicht kalkulierte Aufregung. Die historische Stella war eine Verräterin. Sie wurde sowohl mit Versprechungen gelockt als auch mit brutaler Gewalt zum Verrat gezwungen. Sie wurde gefoltert, dabei brachen ihr Gestaposchergen das Becken, monatelang konnte sie das Bett nicht verlassen. Würger schnurrt das zu einem Verhör zusammen, dessen Folgen nur ein paar blaue Flecke sind. Das Nazi-Unrecht darf die Dramaturgie des Romänchens nicht stören. Der Hanser Verlag hat eine grandiose Historie. Die Verantwortlichen sind ihr nicht gerecht geworden.

Baßler kann von Glück reden, dass ihn die Gnade des früheren Schreibens von dem kalkulierten Aufregungsroman Blutbuch Kim de l’Horizons (2022) verschonte.

- Die Literaturkritik kam ihrer Berichterstatteraufgabe nicht nach. Die überflüssigen Längen, insbesondere das angelesene und kaum transformierte Mittelalter, wurden nicht erwähnt.

- Die Peinlichkeit des Autors, sich an die unterdrückten iranischen Frauen anzuwanzen. Die Mullahs waren beeindruckt.

- Die Peinlichkeit der Funktionsträger, die das Buch crap fanden, es jedoch öffentlich in den höchsten Tönen lobten.

- „Ich komme, seine Eichel so tief in mir, dass ich weiss, dass er den Herzschlag am Ende meines Enddarms spürt, spüren muss; mein Herzlein, das ich selbst nicht spüre, nur durch sein Fleisch spüre, das ich nur kurz, gerade jetzt spüre, weil es klopfend und sich überschlagend auf seiner Harnröhren­mündung aufgespiesst ist.“

Die „romantische“ Beschreibung der passiv spürenden Seite beim Analsex besteht darin, verborgene Teile des Körpers mit Kitsch aufzuladen.

Will man das wirklich lesen? Ein Großkritiker privat: „Mon Dieu.“

Sehen die Leute nicht: Dass es solche Sachen wie das Blutbuch nur deshalb gibt, weil es so etwas in der Fernsehserie zu Recht nicht gibt? Dass die Literatur auf diese Weise zum Mülleimer wird?

Das Ganze aber auch ein müdes Lüftchen