Sibylle Berg: GRM
16. April 2019: Tagsüber, gestern, die ersten Lesestunden in Sibylle Bergs Buch GRM, Untertitel: „Brainfuck“. Abends der Brand der Kathedrale. Das Dach ist weg, schon ist es Symbol. Von Zusammenhalt ist die Rede, vom Überbau. Welcher Überbau? Den Dächern der Kirche gilt mein Alarm nicht, so bestürzend ihr Zusammenbruch kunsthistorisch sein mag. Ebenso wenig ihrem transzendentalen Überbau, dessen Scheinheiligkeit eine in jedem Sinn unterdrückend andere Erzählung als jene der Kunstgeschichte schrieb. In Wirklichkeit brennt es woanders. Und so sehr ich mich vor dem Pathos der Sätze scheue, es brenne alltäglich, führt daran beim Gedanken an das „Brand-aus“ im Londoner Armen-Hochhaus doch kein Weg vorbei. Es brennt zwischen den Geschlechtern und den Klassen. Es brennt das Leben als der eigene Hut. Nur geben das die wenigsten zu. Sibylle Berg greift in die Wunde.
Österreichisches Staatsarchiv: Faszikel 997, HM-Allg. 1904
Im Jahr 1904 spekulierte die russische Regierung mit einem „kleinen und siegreichen Sieg“ gegen Japan, um den Richtung Revolution steuernden sozialen Spannungen noch die Verlockung nationaler Triumpheuphorie entgegenzuhalten. Kaum mehr als zwei Monate nach Beginn des Russisch-Japanischen Krieges, der letztlich fast eineinhalb Jahre dauerte und aufgrund der stillschweigenden Verwicklung so gut wie aller Weltmächte in der neueren Forschung als Weltkrieg Null bezeichnet wird, berichtete der Vize-Konsul Österreich-Ungarns aus St. Petersburg an das k.u.k. Handelsministerium, „selbst die Optimisten können sich nicht mehr der Überzeugung verschließen, dass Russland in einen schweren langwierigen Krieg verwickelt ist, dessen Folgen gar nicht abzusehen sind“. Erlitten auch viele Industriezweige durch den Krieg großen Schaden, zögen doch „jene Branchen, deren Erzeugnisse zur Deckung der mannigfachen Kriegsbedürfnisse dienen, einen mehr oder weniger großen Nutzen aus dem Kriegszustande“. So eröffne der Krieg auch „dem Auslande sehr günstige Konjunkturen“.
Bosnien und Herzegowina: Straßenkarte 1:200000
13.8.22: Das letzte Gebäude vor der EU-Außengrenze, noch auf kroatischem Gebiet, ist ein Einkaufszentrum. Über die Asphaltflächen des leeren Parkplatzes schiebt eine Frau ihr Fahrrad, Einkaufskörbe vorne und hinten. Doppelt, wie nach der Grenze die Häuser in geisterhaftem Doppelpack auf den Grundstücken stehen werden. Neben der zerschossenen, ausgebrannten Kriegsruine stets ein Neubauzwilling. Als könne es kein „an-stelle“ geben.
Franz Lettner: Aus der Arbeiterbewegung im Traisental
Ein schmaler Band, fadengeheftet, dünnes Papier, kleine Buchstabengröße auf eng gesetzten Zeilen. Allein das grelle, leuchtfarbene Rot deutet auf unaufhörliche Unruhe darin hin. Das dünne Buch setzt im späten 19. Jahrhundert ein und erzählt anhand einer kleinen Ortschaft in einem Voralpental Weltgeschichte. Traisen, wie der Ort nach dem Fluss des Tales heißt, war 1890 eine Ortschaft mit 1340 Einwohnern, von denen gerade einmal 300 in Industriebetrieben beschäftigt waren und Eisen verarbeiteten. Die Mehrheit der Bevölkerung setzte sich jedoch aus Handwerkern, Gewerbetreibenden, (Klein-)Bauern sowie ihren Knechten, Mägden und Dienstboten zusammen. Obwohl deren Zahl in den zweieinhalb Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg sogar abnahm, sollte sich die Ortschaft in diesen 25 Jahren mehr als verdoppeln. Hauptfaktor dafür war die Industrialisierung, wie die Beschäftigtenzahl im größten Industriebetrieb des Ortes zeigt, vervielfachte sie sich doch zwischen 1894 und 1911 von knapp 200 auf über 1.200. Bei genauerem Blick auf Zahlen und Fakten entpuppt sich der gewohnte Begriff „Industrialisierung“ jedoch schnell als Ablenkungsmanöver. Zu präzise sind Zeit und Zahl der Beschäftigtenexplosion mit der Umstellung der größten Fabrik des Ortes auf Waffenproduktion in jenem Jahr verbunden, in dem der Russisch-Japanische Krieg begann: 1904. Ein Jahrzehnt später der nächste Schub von 1200 auf 6000. Die Jahreszahl dazu lautet 1914 und das Wort Weltkrieg.
Marko Plešnik: Bosnien und Herzegowina (Reiseführer)
Der Blick von den Anhöhen von Nahorevo über die Hauptstadt. Ungezählte Male mochten Männer der bosnisch-serbischen Armee hier in die Sonne geblickt haben. Auf knapp 1000 Meter Seehöhe bereit zum Abfeuern. Die Sonnenstrahlen über den Wolken, und die kleinen Figuren der Menschen Sarajevos im vermeintlich schützenden Abendschatten. Während überall anders in Europa das Ende des Kalten Kriegs gefeiert wurde, hatte hier eine schier mittelalterlich anmutende Belagerung begonnen. Praktisch, dass sich EU-Europa kurz davor jene Maastricht-Kriterien verordnet hatte, unter denen sich jedes politische Selbstbild im Nu in Luft aufgelöst hatte.
Dževad Karahasan: Tagebuch der Übersiedlung
Karahasans Haus liegt nahe dem Parkplatz, an dem wir bei jeder Fahrt in die Stadt hinunter den Wagen abstellten, und nahe den Brachen, die Krieg und Belagerung in der Stadt bis heute hinterlassen. Marijin dvor wurde als Vierflügelhaus mit Platanen und Blumengärten im Innenhof Ende des 19. Jahrhunderts vom Ziegeleien-Besitzer August Braun erbaut und nach seiner Frau benannt. Bald darauf hieß das ganze umliegende Viertel Marindvor. Als ich mich nach einigen Tagen in der Stadt digital auf die Suche nach Marijin dvor machte, erkannte ich es als eines der ersten Gebäude wieder, in deren Einschusslöcher ich schon am ersten Abend gestarrt hatte, als wir vom Parkplatz kommend die Fassaden eines neuerbauten Investmentungetüms namens „Sarajevo Shopping-Center“ umrundet hatten.
Ich hätte es erkennen müssen, hätte ich nicht bloß die Einschusslöcher vor Augen gehabt. So blindlings nahe, wie einem derartige Löcher immer dann rücken, wenn der Krieg dahinter unbegreiflich bleibt, während ich den Schriftzug über dem Hauptportal des Hauses nicht einmal gestreift hatte: „Marijin dvor“. Tags darauf tranken wir Kaffee in der Bar am hinteren Eck des wuchtigen, nach allen vier Seiten lang gestreckten Hauses, passierten die Magribija-Moschee, deren alte Steine Karahasan nach Granatentreffern geholfen hatten, die Kellerfenster Marijin dvors abzudecken, überquerten einen Skaterpark und die nächste Straße vor jenem modernistischen Rotkreuz-Gebäude aus den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, das von Helen Baldasar als Gesundheitszentrum geplant worden war, in dem ganz selbstverständlich auch ein Kino Platz haben sollte. 1992 war es gleich im ersten Jahr der Belagerung schwer getroffen worden, wieder hergestellt 2010, mit Ausnahme des Kinos – dennoch waren nun beiderseits der offenen Türen Plakate affichiert, die wie Filmplakate aussahen und uns nicht vorbeigehen ließen.
MARIUPOL stand in großen Lettern über dem Kriegsmotiv des Plakats. Drinnen im nackten, einrichtungslosen Foyer junge Leute, die keinen Eintritt kassierten, nur für Fragen da waren. Im Kinosaal dann Bilder in schwebender Hängung. Man solle sie nur berühren, hatte man uns mitgegeben. Auf die Ziegelwände des bis heute im Rohbau der Renovierung verbliebenen Kinosaals die Bilder noch einmal in großer Projektion. Aufnahmen der im März noch in Mariupol verbliebenen Fotojournalisten Mstyslav Chernov und Evgeniy Maloletka: kurze Videopassagen und Fotografien von Tod, Grauen und Verzweiflung. Krieg – kein Wort mehr.
Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 1–3
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