In einer zunehmend weichgespülten Literaturlandschaft wächst das Bedürfnis nach literarischer Größe. Wo sind noch die Schriftsteller-Giganten, die früher den Stand der Dinge in Sachen Literatur definierten? Findet man sie nicht mehr vor Ort, sucht man im Ausland danach. Das dürfte eine Erklärung sein, warum die anglophone Leserschaft sich so außerordentlich besitzergreifend auf das Werk und die Person von W. G. Sebald gestürzt hat. Dessen singuläre Rezeptionsgeschichte lässt sich so verkürzend wie umfassend auf zwei Punkte reduzieren: zunächst sein fulminantes Entrée in die englischsprachige Literaturszene dank der Kulturinfluencerin Susan Sontag, die 1996 sein Debüt The Emigrants als handfesten Beweis für „literary greatness“ annoncierte; keine fünf Jahre später war die Kanonisierung des Werks bereits abgeschlossen durch das Diktum des führenden Literaturkritikers Richard Eder, für den mit Sebalds Roman Austerlitz das berühmte Diktum Adornos widerlegt sei, denn Sebald repräsentiere neben Primo Levi den literarischen „prime speaker of the Holocaust“.
Den tiefer liegenden Grund, warum die anglo-amerikanische Kulturszene, Künstler aller Couleur sowie die internationale Literaturwissenschaft sich Sebald als eine Art Halbgott auserkoren haben, brachte sein Schriftstellerkollege Will Self scharfsichtig auf den Punkt: Sebald lässt sich bestens als Projektionsfigur des Good German vereinnahmen. Da er zudem in England lebte und schrieb, wird Person wie Werk zugleich missbraucht zur nationalen Selbsterhöhung: Beides dient den Engländern, so Self, „as further confirmation that we won, and won because of our righteousness, our liberality, our inclusiveness and our tolerance. Where else could the Good German have sprouted so readily?“
Doch wie sollte im Schatten des Holocaust privates Glück überhaupt möglich sein, für einen Literaturheiligen, dessen sühnende Fronarbeit das Schreiben darüber war?
Dies exemplifiziert einen sozialpsychologisch durchaus leicht durchschaubaren Mechanismus, der ebenso für die deutschsprachigen Länder gilt: die linksliberale Kulturelite, die am Nationalismus und der populistischen Verdummung ihrer eigenen Gesellschaften leidet, sucht sich loszusagen, vielleicht sogar zu reinigen davon, indem man sich idolisierend auf „fremde“ Schriftsteller stürzt, die einem als leuchtendes Idealbild der eigenen Selbstwahrnehmung erscheinen.
Was nun W. G. Sebald als Projektionsfläche englischer Wunschvorstellungen betrifft, so ist mit Carole Angiers lang erwarteter Biografie Speak Silence. In Search of W. G. Sebald eine neue Eskalationsstufe erreicht. Ihr Buch
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