Neulich war es also so weit, und mein Stammwirt starb. Wolfgang Wagner, der über sechzig Jahre die Apfelweinwirtschaft Zu den Drei Steubern in Frankfurt am Main, Dreieichstraße Ecke Klappergasse, geführt hatte. Jeden Tag waren wir bei ihm. Es war der schlichtestmögliche Gastraum in Frankfurt, aber von einer Eleganz, die anderen Räumen nicht möglich war. Wenig Mobiliar, spärlich Bilder an der Wand, ein auf das Notwendigste reduzierte Buffet. Einmal zierte der Gastraum die Titelseite der Süddeutschen Zeitung. Das Foto war von der hinteren Wand aus, dem Eingang gegenüber, aufgenommen, die Kamera zielte in den menschenleeren Raum, stellte eine genaue Symmetrie der Fluchtlinien her, viel Licht, viel Holz, alles schimmerte, dazu das Kupfer des Buffets, die zwei eindrucksvollen Säulen – die Fotografie hatte etwas Königliches, Stolzes. Die Wirtschaft war Wolfgangs Arbeitsgerät, Handwerksgerät, und hier hatte der Fotograf, dies eine Mal zu Recht ohne jeden Menschen, das Instrument in seiner ganzen Schönheit und Durchdachtheit wie auf großer Leinwand durchinszeniert. So hatten wir es noch nie gesehen, es stand da als das Ideal seiner selbst.
Normalerweise würde man nicht auf den Gedanken kommen, eine Wirtschaft ohne Gäste oder gar ohne Wirt zu fotografieren. Aber der Fotograf hatte offenbar begriffen, dass Menschen die sakrale Erhabenheit des vor Schönheit in sich ruhenden Raums gestört hätten.
Über dem Waschbecken hing ein Spiegel, in dem ich mich einmal nach den Ferien tatsächlich nicht mehr wiederentdeckte.
Wer das Bild in der Zeitung sah, beneidete uns sicherlich, die Stammgäste, die dort täglich auf ganz natürliche Weise verkehrten wie Mitglieder eines erlauchten Kreises. Aber gehen wir näher ins Detail, allein nur um zu zeigen, wie groß und mächtig die Steubern wirklich für uns war. Mein Lieblingsplatz, und der einiger anderer, war der vordere Bankplatz neben dem Buffet, und zwar auf der Seite, auf der Wolfgang hauptsächlich arbeitete, denn dort stand der Faulenzer, also jener große Bembel, aus dem eingeschenkt wurde. Von dort hatte man einen kurzen Kommunikationsweg zum Wirt und konnte durch die schräg gegenüberliegende Ausgangstür auf die vorbeiziehende Straße und das Trottoir schauen. Am Meeresstrand zu sitzen konnte nicht zeitaufhebender sein. Ich versaß dort ganze Tage. Was das Foto nicht zeigte: das etwa einen Meter von mir entfernt hängende Handtuch. Ich weiß nicht, wofür es Wolfgang früher benutzt hatte, in seiner letzten Zeit gebrauchte er es vor allem, um sich daran den Tropfen abzuwischen, der in Wilhelm-Busch-Manier in seinen letzten Lebensjahren stets an seiner Nase hing. Es wurde auch gesehen, wie ihm manchmal der Tropfen in ein eben frisch gezapftes Glas Apfelwein fiel. Was das Foto auch nicht zeigte, war Qualität und Konsistenz des Spülwassers, in das Wolfgang seine Gläser nur für einen winzigen Moment hielt, mit einer kurzen Drehbewegung, die ihm so kein Gesundheitsamt mehr abgenommen hätte. Das Foto zeigte auch keine Gläser auf Nahdistanz. Manchmal war so dick Lippenstift daran, dass ich fast brechen musste, als Wolfgang mir das Glas hinhielt. Ich lief damit aufs Klo, schüttete den Inhalt weg, putzte das Glas und hielt es Wolfgang wieder hin, alle Aufmerksamkeit darauf verwendend, dass er nur ja auch dasselbe Glas noch einmal benutzt und nicht in seiner zunehmenden Vergesslichkeit ein neues (eventuell wieder unsägliches) Glas vom Buffet nimmt. Das Maximum war, wenn Wolfgang in das Handtuch schnäuzte, sich noch einmal detailliert die Nase abwischte und dann sofort nach einem Glas griff, um es einzuschenken.
Ebenfalls zeigte die Fotografie nicht das Solei-Glas auf dem Buffet. Wolfgang hatte dort ein großes Glas mit Soleiern stehen, halb abgedeckt, welche vielleicht einmal die Woche gekocht wurden und mindestens tagsüber dann dort auf dem Tresen standen. Im Sommer wurde die Lake, in der sie schwammen, binnen weniger Tage so trüb, dass man nicht mehr wusste, ob noch Eier drin waren oder nicht. Um nachzuschauen, musste man den Deckel heben und mit einem großen Löffel herumrühren. Der sich dabei circa zwei Meter um das Glas herum verbreitende Geruch ist ebenfalls nichts, was auf einem Foto abgebildet werden kann. Je mehr die Eier rochen, desto begeisterter waren wir. In den heißen Sommern ’17, ’18 und ’19 nahm selbst ich manchmal davon Abstand, ein Ei zu essen, wenn nämlich in das milchige Weiß der Lake Grüntöne dazukamen.
Auf der der Kamera entgegengesetzt liegenden Seite der einen Säule, die durch das Buffet ging, hing jeweils ein kleiner Wirtsblockzettel. Nach Wolfgangs stets spärlichen Preiserhöhungen, moderater als in anderen Sachsenhäuser Wirtschaften, notierte er sich dort die Preise für zwei Schoppen, drei Schoppen, vier Schoppen, fünf Schoppen etc., denn noch vor der großen Vergesslichkeit rechnete er bereits sehr schlecht. Am Ende seiner Wirtskarriere war Wolfgang so weit, dass er sogar jedesmal den Preis für einen Schoppen auf dem Zettel nachsehen musste. Er konnte sich nicht einmal mehr den Grundpreis merken. Bezahlen bei ihm war zum Schluss also ein ziemliches Chaos.
Bis etwa Mitte 2013 trank man in den Drei Steubern den von Wolfgang selbst gekelterten Apfelwein, der ein in Frankfurt völlig zu Recht berühmtes Getränk war. Er war der beste in Frankfurt, ich war öfter beim Keltern zugegen, das waren allerschönste Tage, immer ein festlicher Herbsttag. Danach konnte er nicht mehr, es ging immer mehr schief, also kaufte er den Apfelwein ab da zu. Er hatte natürlich nicht mehr die Qualität von vorher. Also gibt auch Folgendes keine Fotografie her: Die Kellerarbeit nahm im selben Maße an Ordnungsgemäßheit ab, wie Wolfgangs Vergesslichkeit zunahm. Es kam viel zu viel Luft an viel zu viele Fässer, manchmal hatte der Apfelwein gelierende Schlieren, manchmal schmeckte er nach einer Mischung aus Essig und Leim und war schlichtweg nicht mehr genießbar (die meisten tranken ihn doch, allein der Kneipe wegen). Das hatte zur Konsequenz, dass die Bedienung, die Wolfgang beschäftigte, sich immer öfter weigerte, den Apfelwein an die Gäste weiterzuverkaufen. Das konnte in Schreiereien zwischen Wirt und Bedienung ausgehen, wie sie sicherlich die wenigsten Menschen jemals in einer Gastwirtschaft erlebt haben dürften.
Von Leben, Zeit, Gesundheitsamt und Hygienevorstellungen unangefochten, regierte Wolfgang Wagner bis zum Schluss, und es war unser tägliches Paradies und der eigentliche Wahrheitsort Frankfurts.
Ich sagte, zur Glasreinigung ging ich bisweilen in den Toilettenraum. Das klingt sehr unschuldig und muss ins rechte Licht gerückt werden. Diese Toiletten
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