Wer sich während der diesjährigen Klagenfurter Tage der deutschsprachigen Literatur hin und wieder bei TV 3sat in die laufende Veranstaltung einschaltete, konnte auf eine illustre Kritikerrunde treffen, die eben dabei war, über einen der vorgelegten Texte zu räsonieren. Womöglich war es der denkwürdige Moment, da einer der Juroren ein vielbeachtetes Diktum verlauten ließ – sinngemäß: „Miserable Lesung und … (kurze Pause) … aber vielleicht war eben dies das Gute daran.“ Zwischen „und“ und „aber“ gab es im Publikum eine sofortige raunende Abwehrreaktion gegen das scharfe Verdikt, das vom Votanten denn auch im gleichen Atemzug bedenkenlos in sein Gegenteil verkehrt wurde: Das Gute an dem Textvortrag wäre also dessen Miserabilität gewesen. Was Wunder, dass in der Folge tatsächlich der Kandidat mit der miserabelsten Lesung den Ingeborg Bachmann-Preis entgegennehmen durfte.
Das Gute an der peinlichen Episode, so könnte man nun hinzufügen, besteht darin, dass sie die Miserabilität heutiger Literaturbetrachtung exemplarisch erkennbar werden lässt – sie tendiert (im Positiven wie im Negativen) zu unbegründeten Pauschalurteilen, es fehlt ihr an objektiven Kriterien und Prioritäten, und wo sie auf Skepsis oder Widerspruch stößt, übernimmt sie bedenkenlos den vorherrschenden Publikumsgeschmack. Der heute im Kulturbetrieb wie in der Unterhaltungsindustrie vorrangigen Laienherrschaft wird in Klagenfurt wie anderswo Genüge getan (um nicht zu sagen: Reverenz erwiesen) durch die Vergabe eines sogenannten Publikumspreises, der ausschließlich vom Kriterium des mehrheitlichen Gefallens bestimmt ist. Eine Diskussion (oder auch bloß ein Meinungsaustausch) über die zu beurteilenden Texte findet nicht statt. Entscheidend ist einzig die Anzahl der spontan abgegebenen Stimmen beziehungsweise die Mehrheit der gereckten Daumen, die als „Likes“ hochgerechnet werden.
Größtmöglicher gemeinsamer Nenner
Naturgemäß beruhen auch die Juryentscheide auf dem Mehrheitsprinzip, mit dem Unterschied allerdings, dass in diesem Fall eine kontroverse Debatte stattfindet, die dann aber notwendigerweise durch einen Konsens beziehungsweise durch die Beschränkung auf den größtmöglichen gemeinsamen Nenner befriedet wird. Wie weitgehend auch Jurydebatten, von denen man doch zumindest eine gewisse Professionalität erwarten möchte, durch mehrheitsfähige Prämissen und Perspektiven geprägt sind, ist in Klagenfurt seit Jahren zu beobachten und lässt sich nicht zuletzt durch die schriftlich vorliegenden Urteilsbegründungen der Jury belegen, zu deren Pflichten es gehört, jeden der preisgekrönten Texte einzeln zu würdigen. Dass diese Begründungen kaum je über Meinungsäußerungen und die Kundgabe von subjektivem Gefallen hinausgehen, macht auf desolate Weise deutlich, in welchem Ausmaß die professionelle Kritik, die in Klagenfurt stets durch namhafte Juroren vertreten ist, mit der Laienherrschaft des Publikums paktiert. Und sie paktiert, mehr oder minder offenkundig, noch auf manch andere Weise. Die Juroren paktieren mit- und gegeneinander, sie paktieren mit Verlagen und Lektoren, sie paktieren auch mit den Autoren, die sie zum Wettbewerb einladen und die sie allein schon deshalb belobigen und gegen kritische Einwendungen verteidigen müssen: Jeder will doch seinen eigenen Kandidaten im Spiel halten und als Gewinner durchsetzen. Von objektiver Begutachtung kann also keine Rede sein.
Figuren mit Unterhaltungswert
Doch Objektivität ist unter der bestimmenden Repression des „laienherrschaftlichen“ Publikums auch gar nicht gefragt. Gefragt sind nicht sachbezogene Argumente und Analysen, sondern rhetorische Figuren mit Unterhaltungswert, Ironie ohne tiefere Bedeutung – das Publikum will seinen Spaß haben, will lachen oder seufzen dürfen. Dass der einzige (in diesem Jahr neu hinzugekommene) Klagenfurter Juror, der sich hin und wieder mit einer formanalytischen Anmerkung zu Wort meldete und sich um argumentative Stringenz bemühte, mehr Unmut denn Zuspruch provozierte, ist keineswegs überraschend. Ebenso wenig war man überrascht, schon während der heurigen Literaturtage in einem überregionalen Qualitätsfeuilleton zu lesen, die Jury möge doch „mehr Zoff“ bieten als prosaische Textexegese. Wer solches fordert, der steht, durchaus zeitgerecht, im Sold der Laienherrschaft, und als Mehrheitsvertreter kann er sich damit ins Recht setzen, auch wenn er – soweit es überhaupt noch um das Interesse künstlerischer Literatur und namentlich um das Erbe Ingeborg Bachmanns geht – unrecht hat.
Recht oder Unrecht? Kritische Autoritäten, die darüber richten wollten und richten könnten, sind längst obsolet geworden. Den einstmals dominanten Großkritiker hat ein Großaufgebot kleiner Rezensenten und Rezensentinnen abgelöst, die sich punktuell über saisonale Texte auslassen, aber nicht mehr bereit oder in der Lage sind, die Arbeit und Entwicklung eines Autors längerfristig zu beobachten und ihre Erkenntnisse in den kritischen Diskurs einzubringen. Die Besprechungsaufträge scheinen eher durch außerliterarische Prioritäten oder durch redaktionelle Zufallsentscheidungen bestimmt zu sein denn durch die künstlerische Qualität der Vorlagen. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, die jährlich rund 15.000 Titel produziert, ist im Literaturbetrieb durch ein paar wenige hochgelobte Erfolgsautoren vertreten, deren Bücher jeweils gleich bei Erscheinen weithin besprochen werden, und sie wird vervollständigt durch Abertausende von Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die entweder unbeachtet bleiben oder aus zufälligem Grund irgendwo eine Rezension bekommen; einmal und nie wieder.
Doch zurück nach Klagenfurt. Dass die dort praktizierte Instantkritik zu einer Vielzahl von unbedachten Voten, rhetorischen Blüten und – zum Schaden wie zum Nutzen mancher Kandidaten – auch zu Fehlurteilen Anlass gibt, ist wohl unvermeidlich. Vermeidlich sollten derartige Schwächen aber doch, so möchte man erwarten, bei den schriftlichen Jurybegründungen sein. Zu jedem der ausgelobten Klagenfurter Preise wird von einem der Juroren eine kurze Laudatio formuliert und bei der öffentlichen Abschlussveranstaltung persönlich vorgetragen. Da dies sicherlich im Konsens mit der Gesamtjury geschieht, darf man annehmen, dass auch in den Einzelbegründungen ein gemeinschaftliches Literaturverständnis zum Tragen kommt, das über Klagenfurt hinaus als aktuell und beispielhaft gelten kann.
Die Preisreden der vergangenen drei, vier Jahre lassen erkennen, dass sachliche Begründungen, die auch die formale Gestalt der Texte berücksichtigen, tunlichst vermieden werden zu Gunsten emotionaler Bewertungen, die ausschließlich das jeweils Erzählte (Stoff, Thematik, Personal, Problemsituationen usw.) zum Gegenstand haben, die Kunst des Erzählens aber völlig ignorieren, so als handelte es sich bei den Vorlagen um geschichtliche oder zeitgeschichtliche Zustands- oder Befindlichkeitsberichte. Wenn gleichwohl in einer der jüngsten Preisreden der „Erzählduktus“ einer erfolgreichen Autorin mit viel Lob bedacht wird, weil er mit „einer besonderen Leichtigkeit“ die „literarische“ Begegnung mit dem „Leben“ bewerkstellige, dann ist damit über den Erzählduktus eigentlich gar nichts gesagt, es sei denn eben – dass er besonders leichtfüßig sein und sich an das reale Leben anschließen solle. In solch banalem Literaturverständnis kann die zuständige Jurorin ihrer bevorzugten Kandidatin voller Begeisterung zugutehalten, ihre Erzählung zeige „ungeschützt Herz“ und vermöge „Menschen aus Rührung“ zum Weinen zu bringen. Wo bleibt da – bei so viel Rührung und Begeisterung! – der kritische Sachverstand? Zu beurteilen war ja doch ein literarischer Text und nicht die Offenherzigkeit der Verfasserin oder die Angerührtheit des Publikums. Andererseits: Die dankbaren Studiogäste applaudieren – man versteht nun wohl noch etwas besser, was man ohnehin schon verstanden hat.
Klagenfurter Poetik
Aus den Klagenfurter Juryvoten und Preisreden ließe sich leicht so etwas wie eine Klagenfurter Poetik synthetisieren. Es ergäbe sich daraus ein „realistischer“ Literaturbegriff, der grundsätzlich an der Wirklichkeit orientiert bleibt und als dessen ständiger Bezugspunkt das „Leben“ zu gelten hat, sei’s das Leben auf der historischen Achse (Epochen-, Familiengeschichten), sei’s das persönliche Erleben der Autoren (Kindheits-, Krankheits-, Kriegs-, Sucht-, Liebes-, Reisegeschichten). Die Wettbewerbsteilnehmer reichen denn auch mehrheitlich irgendwelche – mal eigene, mal fremde – „Lebensgeschichten“ ein, und dementsprechend werden sie auch in eigens produzierten Filmportraits vorgestellt, die ihre private Lebenswelt vergegenwärtigen. Von daher erklärt sich, mit Blick auf die Jurorenrunde, der Vorrang von außerliterarischen Kriterien wie Authentizität, Einfühlung, Nachvollziehbarkeit, aber auch die Vernachlässigung künstlerischer Qualitäten (Textkomposition, Personalstil) bei der Qualifizierung der vorgelegten Texte.
Dass ein literarischer Held „die Traurigkeiten transzendiert und dennoch mitten im Leben steht“, ist wohl das Höchste, was die Klagenfurter Juroren einem Wettbewerbsbeitrag zugutehalten können – im Text wie im Leben! Mit der Parenthese Text/Leben oder Werk/Welt soll literarisches Gelingen beglaubigt werden, und dies nicht nur bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Kärnten, sondern generell im deutschsprachigen Feuilleton. „Ich behaupte“, so lässt sich ein meinungsbildender Kritiker über eine namhafte Autorin vernehmen, „dass ihre Schreib- und Lebensweise auch ein Widerhall jener tiefen Trauer ist, die dem Jahrhundert entspricht.“ Der Kritiker begnügt sich also, statt sich um eine objektive Einschätzung zu bemühen, damit, Text und Leben gleichzusetzen und gleich auch noch zu „behaupten“, das fragliche Werk stehe für die Befindlichkeit eines Jahrhunderts: Schön gesagt, aber nicht zu belegen, und zu widerlegen auch nicht – ein autoritativ vorgetragenes Diktum ohne jede literarische beziehungsweise literaturkritische Relevanz. In Wirklichkeit sind derartige Verlautbarungen nichts anderes als populistische Floskeln, die das Täuschungsgeschäft einer vorgeblich „realistischen“ Weltdarstellung und damit auch den vorherrschenden Publikumsgeschmack rechtfertigen sollen.
Dass keineswegs nur Jury und Kritik, sondern auch ein Großteil der zeitgenössischen Literaten – in Klagenfurt wie auch sonst im deutschen Sprachbereich – dieses Täuschungsgeschäft mittragen oder gar aktiv betreiben, ist offenkundig. Literatur und Kritik sind heute in einen Pakt verstrickt, der wohl die Trendbildung fördert, nicht aber der Qualitätssicherung dient und schon gar nicht der Durchsetzung riskanter, zumindest potenziell innovativer Schreibweisen. Um in Klagenfurt ausgezeichnet zu werden, muss ein Wettbewerbsbeitrag – gemäß den dort meistgenannten Kriterien – „hervorragend“, „anrührend“, „spannend“, gern auch „klassisch“ und am liebsten „wunderbar“ sein, und wenn er’s denn ist, erklärt sich der zuständige Juror (wörtlich:) für „glücklich und zufrieden“ mit dem Hinweis darauf, dass ihm der prämierte Text „sehr gut gefallen“ habe. Wo das Gefallen zum Kriterium wird, werden sachliche Argumentation und Beurteilung hinfällig, und wo Literaturkritik zur Geschmacksdebatte verflacht, triumphiert naturgemäß unergiebiger, vielleicht unterhaltsamer, insgesamt aber unbedarfter „Zoff“ in der Kritikerrunde, mithin eben jene Art von Geplauder, die dem Studio- wie dem TV-Publikum weit eher entspricht als die phrasenfreie, dafür aber begriffsstarke Debatte am Leitfaden der zu besprechenden Textvorlagen.
Vom persönlichen Gefallen diktiert
Der verschwiegene Pakt zwischen Kritik und Publikum ist belegt durch die Zuschauer- oder Wählerkommentare, die während des Klagenfurter Wettbewerbs von privater Seite abgegeben werden. Diese spontanen Bekundungen gründen – in frappierender Übereinstimmung mit den Voten der Jurymitglieder – durchweg auf einem Literaturverständnis, das ausschließlich von persönlichem Gefallen oder Missfallen diktiert ist; das prinzipiell nach „realistischer“ Darstellung und deren Glaubwürdigkeit oder Nachvollziehbarkeit verlangt; das Literatur mithin nicht als Hervorbringung künstlerischen Vermögens, sondern als unmittelbares Produkt „lebendiger“ Erfahrung begreift. Im Internet sind beliebig viele Beispiele derartiger Leserstimmen abzurufen; bloß ein paar wenige seien hier (mit Bezug auf die Gewinnerin des diesjährigen Publikumspreises) angeführt: „Bissig, aus dem Leben.“ – „Einzigartiger Text, bewegend.“ – „Hab mich selbst wiedergefunden.“ – „Sehr berührender Text, Worte ohne Zensur aus dem Leben gegriffen.“ – „… spricht uns Frauen aus der Seele.“ – „Eine ehrlichere Beschreibung der Dinge gibt es nicht.“ Usw.
Wohlverstanden: Nichts ist gegen solch subjektive Meinungsäußerungen einzuwenden, manches aber gegen Literaturexperten (und generell gegen eine populistisch engagierte Literaturkritik), die sich in ebenso unreflektierter Art wie literarische Laien über Texte verbreiten, ohne sie als Kunstprodukte überhaupt noch wahrzunehmen. Oder doch nicht? Sind es nicht womöglich die Autoren selbst, die den Kunstanspruch aufgeben zu Gunsten vordergründig realistischer Darbietung realer Ereignisse, Befindlichkeiten, Erfahrungen; denen es also nicht so sehr um künstlerische Qualität als vielmehr um faktografische Authentizität geht; und die sich tatsächlich, diesseits der Literatur als Kunst, auf Lebens- und Erfahrungsberichte beschränken? Meist jedenfalls bleibt das spezifisch künstlerische Vermögen von Literatur ungenutzt, nämlich die Konstruktion möglicher Welten, die als solche im Erzähltext einen eigenen Realitätsstatus gewinnen und somit etwas Reales entstehen lassen, das als rein künstlerisches Faktum Bestand hat und gleichzeitig der realen Welt angehört. Doch welche künstlerischen Ambitionen verbinden heutige Autoren mit ihren Ehe- und Trennungsgeschichten, mit familiären Alzheimer- oder Krebsgeschichten, mit traumatischen Missbrauchs- oder Migrationserfahrungen – mit realen Stoffen und Problemen nämlich, die keinerlei Stilkunst erfordern und die ebenso gut, vielleicht sogar besser, in Form von Reportagen, Interviews oder dokumentarischen Berichten darzubieten wären?
Die schlichte Tatsache, dass in Klagenfurt vermehrt Texte zur Diskussion gestellt werden, an denen – wie im Fall der Preisträgerinnen von 2013 und 2014 – zugegebenermaßen Lektoren oder Redakteure „mitgeschrieben“ haben, macht deutlich, dass sich die Autoren primär als Stoff- oder Themenlieferanten verstehen und kaum noch daran interessiert sind, einen Personalstil zu entwickeln, der ihre künstlerische Handschrift erkennen ließe und das Werk nicht bloß inhaltlich, sondern auch in formaler Hinsicht als „originell“ oder „innovativ“ ausweisen könnte. Von daher wohl auch das Interesse mancher Jungschriftsteller an Schreibschulen und Literaturinstituten, wo übereinstimmend gelehrt wird, wie „man“ zu erzählen hat, um bei Verlagen, bei der Kritik, beim Publikum „anzukommen“. Nicht ein individuelles Sprachdesign wird hier eingeübt, vielmehr der jeweils vorherrschende Stiltrend, und das führt unweigerlich dazu, dass sich ein mehrheitstauglicher Allerweltsstil herausbildet, der von der Buchkritik wie vom breiteren Publikum gleichermaßen geschätzt wird. Wer sich solcher Durchschnittlichkeit mit eigensinnigem Stilwillen widersetzt, der wird es weder zum Bachelor noch gar zum Master in kreativem Schreiben bringen – unabwendbar gerät er stattdessen in die Gesellschaft jener einzelgängerischen Autoren, die es der Kritik angeblich „schwer“ und dem Publikum „nicht leicht“ machen, womit sie sich selbst aus dem Betrieb ausschließen.
Auch dann, wenn sich vor der Klagenfurter Jury ein Kandidat, eine Kandidatin mit experimentellem Impetus und vorrangig künstlerischen Interessen präsentiert, wird die jeweilige Textvorlage in aller Regel nach ihrer Aussage befragt und nicht auf ihre formalen Qualitäten hin geprüft, auch wenn diese für den Text konstituierend sind und die inhaltliche Seite sekundär bleibt. Oder man reagiert, weil das literaturkritische Instrumentarium zur Begutachtung solcher Beiträge ohnehin fehlt, mit Beliebigkeiten etwa dieser Art: „Aus den Träumereien der Kindheit, dem Paradies duftender Holunderbüsche und früherotischer Phantasmagorien ist einer vertrieben, dem auch die Erkenntnis nicht schwer werden wird: Schreibend wird er versuchen, das Komplexe, das Historische, das Politische und nicht zuletzt das Sinnliche der Welt zu verstehen. In der einen Hand hat er noch die Eistüte, in der anderen schon…“ – was? Eigentlich egal, Hauptsache, „das Sinnliche der Welt“ wird, wie auch immer, eingefangen und in der Realismusfalle festgehalten. Wo der platte Realismus nicht zum Zug kommt, nennt man ihn in der Juryrunde vorzugsweise „magisch“ oder „phantastisch“ – realistisch sollen die Klagenfurter Beiträge allemal sein.
Dies bestätigt neuerdings auch eine Untersuchung der Neugermanistin Karin Röhricht (vgl. dazu die Rezension von Gunther Nickel in VOLLTEXT 2/2014), die anhand der in Klagenfurt prämierten Texte zum Schluss kommt, dass sich die realistische Schreibhaltung und damit die Fokussierung auf außerliterarische Interessen über die Jahre hin permanent gefestigt und inzwischen klare Dominanz erreicht habe. Inhaltliches geht vor, der künstlerische Anspruch schwindet – mit der Folge, dass sich „eine sehr konventionelle Erzählweise“ durchgesetzt habe, die stilistische und kompositorische Innovationen erschwere. Die Literatur, die in Klagenfurt (wie auch anderweitig im Literaturbetrieb) bevorzugt wird, sei primär rekonstruktiv, da sie sich weitgehend auf „Remimetisierung und Refiktionalisierung“ realer Begebenheiten beschränke. Der gar nicht so neue Realismus arbeitet sich demnach belletristisch an der äußeren Wirklichkeit ab und erhebt zugleich den Anspruch, „authentisch“ oder gar „dokumentarisch“ zu sein. So gut wie alle deutschsprachigen Erfolgsautoren – vorab jene, die sich den jährlich vergebenen Deutschen Buchpreis verdient haben – genügen diesem eher bescheidenen Anspruch, und sie müssen es auch, da sie nicht als Künstler, sondern als Trendsetter ausgezeichnet werden, als konsensfähige Belletristen, die verlegerischen, buchhändlerischen, kuratorischen und gesellschaftlichen Interessen gleichermaßen entsprechen können. Was nicht bedeuten muss, dass sie triviale Texte produzieren – sie produzieren eine Art von Literatur, die für ein breites Lesepublikum zumutbar und verständlich ist, die sich in Schulen und Literaturhäusern wie auch in den Kultursendungen des staatlichen Fernsehens präsentieren lässt.
Neues literarisches Terrain
Dagegen wäre nichts zu sagen, hätte diese mehrheitsfähige belletristische Produktion mittlerweile nicht jene Literatur und jene Autoren weitgehend verdrängt, deren künstlerische Anliegen stärker ausgeprägt sind als das Bedürfnis, mit wirklichkeitsnahen, interessanten, unterhaltenden oder gar spannenden Erzählstoffen eine möglichst breite Leserschaft zu gewinnen und dabei (und damit) auch die professionelle Kritik zu beeindrucken. Zwar sind experimentelle Schreibweisen und ist avantgardistische Programmatik längst obsolet geworden, doch weiterhin gibt es Schriftsteller, die nicht primär für sich selbst oder für den Kulturbetrieb, sondern im Interesse der Kunst neues literarisches Terrain zu erschließen suchen. Waren solche Schriftsteller in den 1960er-, 1970er-Jahren noch voll in die Welt der Literatur integriert und haben sie mit vielbeachteten innovativen Projekten vorangebracht, so werden sie heute vom Betrieb ignoriert und sind bestenfalls via Internet oder marginale Kleinverlage erreichbar. Einzig Friederike Mayröcker, die unermüdlich experimentierende Sprachkünstlerin, hat sich – als Alibiautorin – beim Feuilleton und bei Preisjurys halten können: Von ihr wird jede Neuerscheinung jeweils sofort und stets positiv besprochen, derweil nachrückende Autoren mit vergleichbarem Profil mehrheitlich übergangen werden und damit auf engste Leserkreise verwiesen bleiben. Die Neuveröffentlichung von einstmals vielbeachteten Werken der deutschsprachigen literarischen Avantgarde (darunter Konrad Bayers Kopf des Vitus Bering, 1965, und Oswald Wieners Verbesserung von Mitteleuropa, 1969) wie auch die Vergabe des diesjährigen Büchner-Preises an Jürgen Becker, der sich in den 1960er-Jahren als experimenteller Dichter einen Namen gemacht hat, sind als Alibiübungen zu verstehen und sollen wohl einen literarischen Kontrapunkt setzen zum derzeit grassierenden „dokufiktionalen“ Realismus. Wem aber sind noch Autoren vom Format einer Marie Luise Kaschnitz, einer Ilse Aichinger, eines Hans Erich Nossack oder Günter Eich gegenwärtig? Selbst Ingeborg Bachmann, die nach wie vor als Patronin der Klagenfurter Tage fungiert, scheint für die Wettbewerbsteilnehmer – wie übrigens auch für die Juroren – ihre Vorbildlichkeit verloren zu haben.
Lyrik mit Defiziten
Die Prämissen wie auch die Kriterien, unter denen das alljährlich Wettlesen ausgetragen wird, können als repräsentativ gelten für die Befindlichkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur insgesamt und für die Literaturkritik im besondern. Ausgenommen bleibt in Klagenfurt freilich die Poesie, die hier offenbar schon gar nicht mehr zur „Literatur“ gezählt wird, die aber – wie ein Blick auf Lyrikfestivals und Lyrikpreisvergaben unschwer erkennen lässt – mit vergleichbaren Defiziten belastet ist wie die Erzählliteratur. Auch bei Lyrikautorinnen und Lyrikkritikern hat das „Leben“ gegenüber der „Kunst“ deutlichen Vorrang gewonnen, und nicht anders als Romane oder Kurzgeschichten werden auch Gedichte primär auf ihre Aussage hin gelesen und auch von ihrem Inhalt her beurteilt. Sprachkunst als Wortarbeit wird kaum noch praktiziert und findet beim Feuilleton keine adäquate Beachtung mehr. Stattdessen sind in zeitgenössischer Lyrik „Bilder“, „Gefühle“, „Sehnsüchte“, „Fantasie“ u. ä. m. gefragt, lauter Dinge, denen nichts spezifisch Poetisches anhaftet, die auch in Prosa umgesetzt werden können und die letztlich mit dichterischer Formkunst nichts zu schaffen haben, obwohl sie weithin mit dem herkömmlichen Lyrikverständnis zusammengedacht werden.
Nicht anders als in Klagenfurt fordert auch in Meran, wo alle zwei Jahre einer der renommierten Preise für deutschsprachige Lyrik vergeben wird, die Wirklichkeit ihren Vorrang vor der Kunst: Das „Poetische“ an einer Landschaft oder einer Liebesbegegnung, festgehalten in lyrischer Rede, transzendiert die Poesie. Diese vermag doch aber ihrerseits – durch Klang, Rhythmus, Metaphorik – etwas zu schaffen oder wenigstens zu evozieren, das die außerliterarische Wirklichkeit überbietet, um im Gedicht und als Gedicht eine eigene Wirklichkeit herzustellen, die der Welt, in der wir leben, zugehört, ohne bloß deren Abklatsch oder noch so „präzises Echo“ zu sein. Doch die Meraner Lyrikpreise werden konsequent an Autoren vergeben, denen es gelingt, zum Beispiel „eine Industrielandschaft, eine Zeit auf berührende Weise im Gedicht zu bewahren“ oder – wie im Fall des jüngsten Laureaten – „bei aller Fabulierkunst politische und historische Schrecken zu streifen und Haken schlagend mit kühnen Volten zwischen bitterer Komik und Melancholie zu changieren“. Sic. In solchem, eben doch wieder realistischem Verständnis dichterischer Rede wird ein anderer Preisträger dieses Jahrgangs wörtlich wie folgt gewürdigt: „Für mediterran beleuchtete Elegien, in denen Kindheitserinnerungen und Sehnsuchtslandschaften auf subtile Weise ineinander geschoben werden, für eine Poesie, in der die Reflexion auf die Reise geschickt und Stanniolpapier, Tauben und Filmdosen zu unvermuteten Bildern einer größeren Welt werden.“
Dem Hauptgewinner von 2012 wurde von der Meraner Jury zugute gehalten, er führe „die Stationen einer Biografie in schillernden Bildern“ bald salopp, bald hochtönend vor, sodass sie schließlich „ein ganzes Dichterleben umfassen“ und darüber hinaus sogar „einen Paradiesgarten finden“. Mag ja sein; doch was haben derartige Belobigungen spezifisch mit Dichtung zu tun? Braucht es das Gedicht als Spiegelbild des Lebens und als Wegweiser ins Paradies? Oder wären dafür eine Erzählung, ein Dialog, ein autobiografischer oder philosophischer Essay nicht vielleicht besser geeignet? Aber nein. In Meran werden Dichter und Dichterinnen prämiert, die „individuelle Kindheitserfahrungen und die Geschichte der Heimat zu lyrischen Miniaturen verdichten“ oder „deren Gedichte überzeugen durch ihre poetische (sic) Vielschichtigkeit in der Verknüpfung von Naturbildern mit politischer Geschichte und Kindheitserinnerungen“ u. a. m. In selbigem Verständnis wurde in Meran der 2008 „spontan gestiftete Preis der Jury“ geradezu programmatisch mit folgender Laudatio vergeben: „Den Preis erhält eine Autorin, deren im Alltag verwurzelte (sic) Gedichte von der ersten Zeile an einen poetischen (sic) Raum eröffnen, in dem die Liebe, die Poesie (sic), die Schlümpfe (sic) und jede Menge (sic) traumhafter Sequenzen zueinander finden.“ Diese Würdigung mag bei all ihrer Unbedarftheit von der Preisträgerin als Lob verstanden worden sein, in Bezug auf die Sache der Dichtung kommt sie über Banalitäten und Pleonasmen nicht hinaus, kann aber als durchaus typisch gelten für die Art und Weise, wie gegenwärtig von angeblich sachverständigen Kritikern über Lyrik geredet und geschrieben wird. Diese Art und Weise unterscheidet sich nicht mehr wesentlich von unreflektiertem Geplauder, wie man es von literaturbeflissenen Laien kennt und das im freundschaftlichen Gespräch auch seine Richtigkeit hat. Dass sich jedoch die professionelle Kritik selbst im Qualitätsfeuilleton der literarischen Laienherrschaft sichtlich unterwirft oder jedenfalls sich ihr anpasst, ist ein mit beliebig vielen Belegen zu dokumentierendes Faktum. Was sich im deutschsprachigen Literaturbetrieb neuerdings herausgebildet hat, ist „eine von der Laienperspektive her gedachte Kultur der Subjektivität“, die jeden Kulturteilnehmer, der „ich“ sagt und damit „wir“ meint, als Autor wie auch als Autorität akzeptiert.*
Kumpelhaftigkeit und Phrasendrescherei
Die heutige rezensentische Rhetorik bevorzugt zwei gänzlich verschiedene Register – einerseits das der kumpelhaften, begriffsstutzigen Anrede, andererseits das der pseudointellektuellen Phrasendrescherei. Beides, Kumpelhaftigkeit wie Phrasendrescherei, kommt ohne jede Argumentation aus, beschränkt sich auf peinliche Inhaltsangaben und pauschale Beurteilungen. Auf einer der prominentesten Literaturseiten der deutschsprachigen Presse war unlängst das folgende Besprechungsfazit zu lesen: „Es ist dieses irisierende, in den Erinnerungen an die Lebenden und die Toten, in der ganzen berauschenden Erzählung der menschlichen Tragödie pulsierende Licht, welches das breite Panaroma von NNs gesamtem Werk erfüllt und seinem neuen Roman die Aura großer Kunst verleiht.“ Das heißt so gut wie nichts und ließe sich gleichermaßen über manch ein anderes zeitgenössisches Erzählwerk sagen. Die „berauschende“ Besprechung gleicht sich der „berauschenden“ Besprechungsvorlage an, sie verfließt gewissermaßen mit dem Werk und gibt damit jegliche kritische Distanz auf.
Stimmung und Hingabe
Ein Gleiches ist dort der Fall, wo Bücher von ihren Rezensenten wie literarisches Fastfood angepriesen (gelegentlich auch – wenn sie nicht „fast“ genug sind – verrissen) werden. Da kann man dann etwa in einem Literaturmagazin über einen weithin gerühmten Großschriftsteller das folgende rezensentische Bekenntnis lesen: „Ich persönlich habe eine ganze Menge von NNs Romanen gelesen und in viele andre reingelesen, mich in ihnen umgesehen. XY ist eines meiner Lieblingsbücher von ihm, aber ich habe wohl kaum mehr als die Hälfte davon wirklich gelesen. Du liest NN nicht auf der Suche nach Struktur und altbackenem Geschichtenerzählen; du liest NN wegen seiner Sätze, wegen der Stimmung, wegen dem Erlebnis. Du gibst dich ihm hin, aus dem selben Grund, der andere dazu bewegt, Stürmen nachzujagen.“ Dass sie Stimmung erzeuge und Hingabe ermögliche – das ist die vorrangige Erwartung, mit der sich heutige Literatur von Publikums- wie von Kritikerseite konfrontiert sieht, und die saisonale Erfolgsbelletristik kommt dieser Erwartung auch mehrheitlich nach.
Die Macdonaldisierung des gesamten Kulturbetriebs wird sich nicht aufhalten lassen und ist schon gar nicht rückgängig zu machen. Man sehe sich die Programmangebote großstädtischer oder internationaler Literaturfestivals an – mit ihren Lektürestaffetten und -marathons, ihren Schreib- und Vortragswettbewerben, ihren Lesungen im öffentlichen Raum und in der Straßenbahn, ihren Publikumsbefragungen und -ratings – um zu erkennen, dass begeisterte oder auch bloß geschäftstüchtige Dilettanten die Szene weitgehend dominieren. Alles ist auf Affirmation angelegt, auf Unterhaltung, Spaß, Leichtigkeit, Verständlichkeit, Stimmigkeit, kurz – auf human touch, und dies selbst dann, wenn Provokation, Schock, Skandal angesagt sind. Da ist alles gut genug, solang es nur gefällt und keine intellektuelle Anstrengung erfordert; da lässt sich ohne jeden Sachverstand – das Geschmacksurteil genügt – alles mit dem Däumchen nach oben „liken“, aber auch durch Buhrufe oder Shitstorms diskreditieren. Genaueres Hinhören, Hinsehen, Gegenlesen scheint nicht gefragt zu sein. Die Tuchfühlung mit den Autoren und deren jeweilige Performances wecken deutlich mehr Interesse als der individuelle Akt des Lesens, der im Unterschied zur öffentlichen Lesung die Möglichkeit des Einhaltens und Nachdenkens, des Rückkommens und des Annotierens bietet – die Möglichkeit, „über die Bücher zu gehen“, die tatsächlich nur dann in vollem Maß gegeben ist, wenn der Leser, die Leserin das Buch als Objekt unter der Hand und vor Augen hat. Der intensiven, gewiss auch anstrengenden, aber selbstbestimmten Lektüre zieht man in passiver Erwartungshaltung die momentane Intensität des Events vor. Dies kritisieren oder gar ändern zu wollen, erübrigt sich – es ist nun einmal so, dass Kurzzeiterregung auch im Umgang mit Literatur jede Art von Nachdenklichkeit dominiert und dass infolgedessen der unmittelbare Effekt die Frage nach Qualität und Relevanz weitgehend ausblendet.
Das Rating eines Künstlers, eines Schriftstellers, eines Musikers bemisst sich vorrangig nach quantitativen Kriterien, wird bestimmt anhand der Anzahl von Publikationen, Ausstellungen, Auftritten, Preisen, Stipendien, die er in seinem CV oder auf seiner Website anführen kann. Gut ist, was gut ankommt, und was gut ankommt, ist das, was man leicht „reinziehen“, leicht verstehen, leicht mit andern teilen kann. Akzeptanz wird gewonnen und gesichert durch das Gewohnte, durch das als „Trend“ Akzeptierte, aber auch durch das Skandalöse, das – als Inszenierung geplant und als solche durchschaubar – bestehenden Erwartungen ebenfalls „leicht“ zu entsprechen vermag. „Leichtigkeit“ – wir essen und rauchen, wir kleiden uns noch so gern light – ist in kulturellen Dingen zu einem „Must“ geworden. Nur bitte keine Komplexität, keine Verstörung, überhaupt nichts, was die Rezeption erschweren könnte – auch die Tragödie, der Wahnsinn, die Niedertracht, die große Leidenschaft sollen in der Kunst bekömmlich sein, und wo sie’s nicht sind, werden sie bekömmlich gemacht, damit das große Rauschen keine Dissonanzen bekommt. Beispielhaft dafür ist die staunenswert rasche und positive Rezeption, die neuerdings den tausendseitigen, durchwegs schwarzmalerischen Großromanen von Wallace, Littell, Vollmann oder Nádas zuteilgeworden ist – Werke, für deren Lektüre man viele Wochen investieren müsste und deren Verständnis höchste kritische Anstrengung erfordert. Keiner der voreiligen Rezensenten kann diese Bücher gelesen haben, aber jeder hat sie gesehen, hat wohl die Verlagswerbung zur Kenntnis genommen, dann den Text vielleicht diagonal durchgenommen (mehr ist in so kurzer Zeit ganz einfach nicht zu leisten), und von diesen ersten Eindrücken dürften die weitgehend übereinstimmenden Statements hergeleitet worden sein, die den ungewöhnlich sperrigen, in mancher Hinsicht provokanten Werken zwar in keiner Weise gerecht werden, sie aber vordergründig in der literarischen Landschaft verorten, will heißen – sie domestizieren und eben dadurch für den allgemeinen Geschmack vereinnahmen. Es erstaunt denn auch nicht, dass sich die meisten dieser Besprechungen wie notdürftig erweiterte Klappentexte ausnehmen.
Mal raunend, mal burschikos
Und nochmals zur Lyrik und Lyrikkritik. Auch in dieser Domäne hat sich die Laienherrschaft etabliert, auch hier – im Gedicht wie in der Gedichtbesprechung – triumphiert mal die raunende, mal die burschikose Rede. „Sogenannte ‚Im-Nu-Gedichte‘, einfach und klar“, schreibt ein aufstrebender Jung-lyriker nach eigenem Bekunden für sich selbst und seine Generation: „Vielleicht habe ich mich sogar in diesen Gedichten wahrhaftig untergebracht und habe es nicht gewusst … oder ist es die ‚Vorbereitung auf den Tod‘, dass ich sie nun schnell an die Nachfahren los werden will oder ist es ein anderes oder …, wer weiß das schon bei Gedichten?“ Ja, wer weiß das schon? Nein, man möchte und müsste das gar nicht wissen! Doch da stellt sich dann gleich ein aufstrebender Jungkritiker ein und gibt uns zu verstehen, dass auch das Gegenteil – hoher Ton statt Alltagsparlando – eine überzeugende poetische Option sein kann: „NN will uns direkt in den Rausch der Poesie verstricken, unmittelbar haben wir es mit einer Rede zu tun, die man unschwer als poetische Rede erkennt.“ Solcher Trash wird keineswegs nur via private Blogs verbreitet, sondern gehört zum gängigen Angebot führender Internetplattformen für … ja, eben speziell für Lyrik und Lyrikkritik.
Literatur als Kunst
Die gängige, durch Ratings beglaubigte Belletristik mag sein und bleiben, was sie nun mal geworden ist, nämlich ein Teil der Unterhaltungsliteratur und des Infotainments. Doch weiterhin gibt es auch jene minderheitliche, nur noch am Rand wahrgenommene Literatur, die sich primär als Kunst zu behaupten versucht und die an sprachlichen Formalien und Experimenten mehr interessiert ist als an modischen Themen und saisonalem Erfolg. Nur eine kleine Minorität verlangt weiterhin nach solcher Literatur und wird sie auch außerhalb der Publikumsverlage und des Großbuchhandels ausfindig machen, derweil die überwiegende Mehrheit – der Leserschaft wie auch der Kritik – klaglos darauf verzichten kann. Um die Forderungen, die von der Laienherrschaft an die Literatur gestellt werden, zu erfüllen, braucht es das Buch und die traditionelle Kulturtechnik des Lesens nicht mehr. Elektronische Medien sind für Texte mit saisonaler Halbwertzeit, die man bestenfalls überfliegt und sicherlich kein zweites Mal lesen wird, besser geeignet, nicht zuletzt deshalb, weil sie in der Alltagswelt keinen Raum einnehmen und problemlos zu löschen sind. Man könnte also die trendbestimmte Belletristik vollumfänglich den elektronischen Medien zuschlagen und das Buch exklusiv der Kunstliteratur vorbehalten.
Wer auch künftighin Bücher kaufen wollte, könnte sich dann einigermaßen darauf verlassen, dass er (zu einem wohl deutlich höheren Preis) auch deutlich mehr Qualität geboten bekäme und darüber hinaus nachhaltige Texte, die widerständig, vielleicht schwer verständlich sind, die aber auch eine zweite, eine dritte Lektüre lohnend machen können. Das würde freilich das Ende sowohl des traditionellen Verlagswesens wie des Buchhandels bedeuten. Doch nur so wird sich, andererseits, die Literatur als Kunst halten können – nicht auf Besten- oder Bestsellerlisten, nicht auf Festivals und Wettbewerbsveranstaltungen, einzig im Elfenbeinturm kann sie, endlich wieder elitär und selbstwertig geworden, überdauern.
*) Siehe dazu die exzellente kritische Bestandsaufnahme in dem Sammelwerk Laienherrschaft: Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien, herausgegeben von Ruedi Widmer, mit Beiträgen von praktizierenden Kulturvermittlern, Medientheoretikern und Kunstpädagogen, erschienen beim Verlag Diaphanes, Zürich/Berlin 2014.