In der vorigen Ausgabe von VOLLTEXT hatten wir die Juroren und Jurorinnen des Bachmannpreises gebeten, ihr Verständnis von Literaturkritik im Rahmen eines Fragebogens darzulegen. Aufgrund der großen Resonanz haben wir uns entschlossen, diesen Fragebogen zu einem ständigen Element von VOLLTEXT zu machen und in jeder Ausgabe eine/n Kritiker/in einzuladen, Farbe zu bekennen.
Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Aufmerksamkeit für die Literatur erhalten und wecken und durch die Art, wie Literaturkritik das tut, mitwirken am Erhalt einer ästhetisch interessierten politischen Öffentlichkeit.
Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Die Arbeitsbedingungen. Eine seriöse Kritik muss entsprechend honoriert werden, und sie braucht Spielraum. Wenn die Räume schrumpfen, kann kein Gespräch entstehen. Wenn kein Gespräch entsteht, wird die Kritik fad. Wenn die Kritik fad wird, fehlt eine wesentliche Vermittlungsinstanz. Das ist schlecht, denn Bücher und ihre Autorinnen und Autoren brauchen ein Gegenüber in der Öffentlichkeit, und zwar ein geschultes, geübtes und durch Widerspruch erfahrenes. (Damit meine ich nicht, dass es einen Studiengang „Literaturkritik“ braucht, sondern dass ich als Kritikerin Redakteurinnen und Redakteure benötige, die auch wirklich redigieren. Und ich brauche die Auseinandersetzung mit und den Widerspruch von Kolleginnen und Kollegen, beides fehlt.)
Übrigens bedarf nicht nur die Literatur einer seriösen und intelligenten Kritik. Ich bin überzeugt davon, dass auch wir Leserinnen und Leser sie brauchen. Kritik, verstanden auch als nachdenkliche und genaue Lektüre und als ein Gespräch über Literatur, ist für mich eine ernste Angelegenheit, weil dieses Lesen eine Form ist, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, sich in ihr zu verorten und Kräfte freizusetzen, die in individuelle Lebensläufe, aber auch in soziale Zusammenhänge wirken können. Nicht durch einen Paukenschlag, aber durch leise Verschiebungen.
Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als Kritikerin?
Ja, sicher. Als Basis, von der aus ich lese. Literaturwissenschaftliche Theorien lehren einen anderen Zugang zum Text, sie lehren vor allem, dass es verschiedene Zugänge gibt und dass sich der Text verwandelt, je nachdem durch welche Tür man ihn betritt. Daher geht es auch nicht darum, ideologisch einer Theorie anzuhängen, sondern über die Möglichkeiten des ganzen Werkzeugkastens zu verfügen. Theorien unterstützen einen distanzierten, also eigenen Blick, der über Geschmacksurteile hinaus geht.
Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten?
Michael Braun bewundere ich als Lyrikkritiker für sein immenses Wissen und seine Gabe, Komplexes allgemein verständlich zu formulieren ohne zu vereinfachen. Ina Hartwig achte ich für ihre Genauigkeit, die im Ausdruck nie angestrengt ist, und vor allem für ihren literarischen Verstand, der immer auch politisch ist. Ich schätze ihren Respekt vor der Arbeit und der Existenzweise der Autorinnen und Autoren und ihre Abneigung gegen den selbstbezüglichen, betriebsinternen Blick. Beide, Michael Braun wie Ina Hartwig, würden sich nie von Ressentiments treiben lassen, beide beurteilen Bücher aus ihrem eigenen Anspruch heraus, sind also Kritikerin und Kritiker, nicht Meinungsmacher, die ja außer oberflächlicher Rhetorik nicht viel zu bieten haben. Als Kritikerin muss man den eigenen Geschmack zurückstellen, wenn es darum geht, die Qualitäten eines Buches zu erfassen und zu erörtern.
Wie viele Bücher muss ein/e Kritiker/in gelesen haben, um kompetent urteilen zu können? Wie viele haben Sie gelesen?
Uff, das weiß ich wirklich nicht. Ich glaube, es kommt auch weniger darauf an, wie viele Bücher man gelesen hat, als auf die Frage, wie man sie gelesen hat.
Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Siehe oben. Wirklich keine Ahnung. Ich werde 2016 mitzählen, versprochen. Aber: Es kommt ja nicht nur auf die Neuerscheinungen an. Man folgt ja auch den Verweisen eines Buchs auf andere Bücher oder beschäftigt sich mit dem Werk des Autors bzw. der Autorin. Für mich ist es das Schönste, durch ein Buch auf andere Bücher zu stoßen.
Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Wolfgang und Heike Hohlbein? (War diese Phase mit 15?) Ich habe jedenfalls kein „Hesse-Erlebnis“ gehabt und habe damals auch nicht Kafka und Goethe und Hölderlin, auch nicht Bachmann gelesen. Ich habe sogar einige Jahre gar nicht gelesen, weil ich andere Dinge zu tun hatte, die mir, das glaube ich sicher, bei den späteren Lektüren geholfen haben, auch wenn diese Lektüre-Jahre, die andere in ihrer Pubertät haben, durchaus manchmal fehlen.
Was lesen Sie, wenn es nicht mit dem Beruf zu tun hat?
Ich lese vielleicht etwas mehr Klassiker, aber eigentlich ist der Unterschied nicht groß. Ich lasse, manchmal, den Bleistift weg. Aber Literatur ohne einen gewissen Anspruch, also rein kommerzielle Bücher, kann ich kaum noch lesen. Ich durchschaue einfach sofort, wie ich über den Tisch gezogen werden soll. Das langweilt mich dann.
Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritikerin je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Über Clemens J. Setz würde ich heute anders schreiben, als ich es einmal über Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes getan habe. Ich habe wohl noch immer ein paar Einwände, aber ich verstehe jetzt besser, was er macht. Solche Revisionen von Lektüren passieren aber ständig und hängen nicht zuletzt auch damit zusammen, dass sich mein Verständnis von Kritik in den Jahren verändert hat. Mich interessiert die Auseinandersetzung sowohl des Autors oder der Autorin mit seinem bzw. ihrem Stoff und der dafür gewählten Form als auch meine eigene mit genau diesem Prozess. Das heißt nicht, dass es nicht auch um Beurteilungen geht, die sind der Fluchtpunkt. Aber das Denken hört ja nicht auf.