Fragebogen: Daniela Strigl

Zum Geschäft der Literaturkritik heute

Online seit: 16. Mai 2017

Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Ein öffentliches Gespräch über Literatur in Gang zu halten, das sich auch noch anderen Aspekten widmet als jenen der zeitgebundenen Bedeutsamkeit (die sogenannte Welthaltigkeit), der Unterhaltung oder des persönlichen Wohlbefindens des Lesers. Ein Gespräch, das Literatur ernst nimmt, als mitunter schwer erträgliche Reaktionsweise auf die menschliche Existenz ebenso wie als Reich der Form.

Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Für mich persönlich: die Simulation einer gesellschaftlichen Relevanz, die sie schon seit Längerem nicht mehr hat. Ich muss zumindest so tun, als wäre die Kritik noch wichtig, damit ich jenes Maß an Hingabe und Ernst aufbringe, das jeder literarische Text grundsätzlich verdient. Mitten in dieser mir selbst vorgespielten Wichtigkeit dämmert mir freilich die Irrelevanz meines Tuns, die wiederum eine schöne Freiheit eröffnet. Allgemein betrachtet ist die Kritik in ihrer Marginalisierung natürlich als siamesischer Zwilling an die Literatur gebunden. Der Zeitgeist hält nicht viel von Literatur und von literarischer Bildung beziehungsweise er hält sie für Luxus, ergo entbehrlich. Das wird sich einmal auch wieder ändern, bis dahin lese und schreibe ich unverdrossen weiter.

Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als Kritiker?
Bestimmt, irgendwie subkutan. Meine Beziehung zur französischen Theorie, so vermute ich, ist eine häretische: Ich habe Foucault und Barthes immer als Literatur gelesen. Und als solche durchaus genossen. Aber ich komme aus der Schule Wendelin Schmidt-Denglers und hänge als Germanistin wie als Kritikerin einem altmodischen Modell von Philologie an, ich glaube hartnäckig an den Nutzen der Hermeneutik und an die Mühen und Wonnen des Close reading. Die Psychoanalyse fasziniert mich allerdings schon, und ich meine – als Biografin – von ihr auch profitiert zu haben.

Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Tucholsky für seine Geradlinigkeit und seinen Humor; Karl Kraus natürlich als makellosen Stilisten, aber auch für seine Radikalität im Urteil und seinen Mut zur Ungerechtigkeit; Hilde Spiel für ihre Belesenheit und kristalline Klarheit; Edwin Hartl als Krausianer mit Milde. Von den Zeitgenossen zu viele, um sie alle zu nennen. Sigrid Löffler habe ich schon als Schülerin für ihre analytische Schärfe bewundert, obwohl ich in der Sache gar nicht selten anderer Meinung war und bin. Lothar Müller beeindruckt mich durch seine Klugheit und geradezu einschüchternde Ernsthaftigkeit. Denke ich an Ursula März, Ulrich Weinzierl, Paul Jandl oder Klaus Nüchtern fallen mir vor allem zwei Begriffe ein: Witz und Eleganz des Stils.

Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können? Wie viele haben Sie gelesen?
Ich weiß nicht, viele – er muss vor allem viele auch wieder vergessen haben. Das Gelesene reichert sich in der idealen Lesebiografie gleichsam an wie Humus. Die zweite Frage kommt mir vor, als würde man von mir wissen wollen, wie viele Wiener Schnitzel ich in meinem Leben gegessen habe. Keine Ahnung, das kann ich auch nicht schätzungsweise angeben.

Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Immer zu viele, immer zu wenige, oft die falschen. Das hängt auch von meiner jeweiligen Juryarbeit ab. Heuer waren es schätzungsweise dreißig bis vierzig. Ich bedaure grundsätzlich, zu viel meiner Zeit mit belletristischer Dutzendware zu vergeuden und nehme mir vor, mich intensiver den Klassikern zu widmen. Und mehr Lyrik zu lesen.

Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Marlen Haushofer zum Beispiel, Nestroy, Rilke, Morgenstern, Jane Austen, Kleist (Kohlhaas), Tschechow, Schnitzler, Kazantzakis, Karl May. Eigentlich hat sich nur Karl May abgenutzt. Dazu gekommen sind, etwas willkürlich ausgesucht, Turgenjew, Gontscharow, Fontane, Grillparzer, Ebner-Eschenbach, Ferdinand von Saar, Theodor Kramer.

Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Nicht viel, ich kann mir meistens erfolgreich einreden, dass eh alles im weitesten Sinne mit meinem Beruf zu tun hat. Abgesehen von hippologischen Abwegen: Pferde, Pferdesport, Zucht, Dressur, Spanische Hofreitschule. Und Kulinarik, Gastronomiekritik.

Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritikerin je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Vielleicht eine erfolgreiche Verdrängung, aber mir fällt keine solche Revision ein. Vermutlich war ich da und dort eher zu mild als zu streng.

Daniela Strigl lebt als Literaturkritikerin und -wissenschaftlerin in Wien. Zuletzt erschien Berühmt sein ist nichts. Marie von Ebner-Eschenbach –  Eine Biographie (Residenz Verlag).

Quelle: VOLLTEXT 4/2016

Online seit: 16. Mai 2017