Auf den ersten Blick könnte man den schweren, in hellgraues Leinen eingebundenen Band im Quartformat durchaus für eine historisch-kritische Werkausgabe, etwa von Kafka oder Hölderlin, halten: Linkerhand jeweils das Faksimile eines Textträgers, rechterhand die dazugehörige Transkription. Und in der Tat: So This Is Permanence ist durchaus eine Klassikerausgabe. Allerdings ist der Verfasser kein herausragender Autor deutscher Sprache, sondern der britische Musiker Ian Curtis, Sänger und Texter der englischen Postpunk-Band Joy Division. Nur rund vier Jahre existierte das 1976 gegründete Quartett, das lediglich zwei Studioalben veröffentlichte, welche heute allerdings unverbrüchlich zum Kernbestand der Musik des späten 20. Jahrhunderts zählen.
Was Joy Division schuf, war ein Werk, auf welches die Kritikerhülse „unerhörte Musik“ ausnahmsweise tatsächlich passt. Einmalig an ihren Veröffentlichungen ist der kalte, oder besser gesagt: ausgekältete Sound, den der Tontechniker Martin Hannett den Platten verpasste. So zeitgemäß und doch zugleich überzeitlich hatte keine Band zuvor geklungen. Ihre düstere Trauermusik lieferte einen stimmigen Soundtrack zur neoliberalen Zerstörung des Vereinigten Königreichs, welche durch die Wahl von Margarete Thatcher im Jahr 1979 eingeleitet wurde.
Dem elegischen, zwischen Wut und Trauer oszillierenden Abgesang auf eine bessere Zukunft entsprachen die eindringlichen Designs der Plattenhüllen, für die Peter Saville verantwortlich war: Zum einen das mittlerweile ikonografisch gewordene Schwingungswellen-Muster mit schwarzem Hintergrund auf Unknown Pleasures (1979), zum anderen das auf Closer (1980) befindliche, weiß umrahmte Foto einer marmornen Gruftskulptur, die eine Trauergruppe darstellt. Die beiden minimalistischen Designs haben bis heute nicht an Kraft verloren, auch wenn sie mittlerweile hunderttausendfach auf Postern oder T-Shirts reproduziert wurden.
Urbaner Verfall
Zumal die melancholische Darstellung des Grabmals eine kongeniale Illustration zu einer Musik lieferte, bei welcher „der Strick zum Sich-Aufhängen gleich mitgeliefert wird“. So jedenfalls formulierte es vor vielen Jahren ein Freund, der kulturell zwar eher auf Klassik und Goethe abonniert war, die ästhetische Größe von Joy Division aber sofort erkannte. Wie auch anders angesichts dieser gespenstischen Musik, die geboren wurde aus dem urbanen Verfall des post-industriellen Manchester, das Benjamin Disraeli zu dessen Blütezeit noch als „celestial Jerusalem“ gepriesen hatte. Die hingegen höchst deprimierende Atmosphäre der Stadt während der 1960er- und 1970er-Jahre hat der England-Emigrant W.G. Sebald in der Prosalyrik von Nach der Natur oder der (semi-)autobiografischen Erzählung „Max Aurach“ (aus: Die Ausgewanderten) höchst evokativ beschrieben. Der mit Sebald durchaus zu verwechselnde Ich-Erzähler fühlte sich im desolaten Manchester „in einen quasi/ sublunaren Zustand schwerer/ Melancholie“ versetzt, was dazu führte, „daß ich/ ununterbrochen die eintönigen/ Schwingungen einer Maultrommel vernahm/ und wiederholt vor Beklemmung außer/ Haus gehen mußte.“ Seelische Linderung suchte er unterirdisch, „im Souterrain der Universitätsbibliothek“, bei tagelanger Lektüre der „Schriften des Paracelsus“ als einer gleichsam literarischen Form von Therapie.
Ian Curtis hingegen, zwölf Jahre jünger als Sebald, fand seinen seelischen Trost nicht in alten Schriften, sondern in dystopischen Texten aus dem 20. Jahrhundert. Abgebildet in So This Is Permanence sind die Cover von einigen jener Taschenbücher seiner Bibliothek, die ihn am stärksten beeinflussten: Aldous Huxleys Brave New World etwa, oder Anthony Burgess’ A Clockwork Orange. Diese wie auch andere Visionen einer bedrohlichen Zukunft hinterließen unverkennbare Spuren in den Texten, beispielsweise im großartigen Transmission, wo eine düstere Welt entworfen wird mit Versen wie: „Eyes, dark grey lenses frightened of the sun/ We would have a fine time living in the night/ Left to blind destruction/ Waiting for our sight“.
Direkte Referenzen auf literarische Vorbilder finden sich eigentlich nie bei dem überaus belesenen Curtis, allerdings entlehnte er gerne Buchtitel für seine suggestiven Songtitel – so etwa im Fall von „Dead Souls“ (Gogol: Tote Seelen), „Colony“ (Kafka: „In der Strafkolonie“) oder „Atrocity Exhibition“ (nach J.G. Ballards gleichnamigen Buch). Ein besonderes Faible, wie auch anders, hatte Curtis für Lyrik; neben Rimbauds Une Saison en Enfer besaß er auch Gedichte von Ted Hughes, während sich in den Zeilen „Hollow in their meaning,/ Hollow in their thinking“ wohl eine Anspielung auf T.S. Eliots The Hollow Men erkennen lässt. Seine Texte sind keine Dechiffrieraufgaben für Philologen, sondern imaginative Hallräume. Bei einer Textzeile wie „In the corner of a room I found truth“ zum Beispiel drängt sich unvermeidlich die Assoziation zu dem magischen Raum am Ende von Tarkowskis Stalker auf. Vielfach belegt ist der Umstand, dass Curtis sich immer weigerte, über sein Schreiben und seine entstehenden Texte zu sprechen. Vielleicht, weil sie zu persönlich waren, vielleicht, weil sie ihren enigmatischen Charakter bewahren sollten. Auch ließ er sie zu Lebzeiten nirgends abdrucken, damit seine Hörer sie sich bei Interesse selbst erarbeiten mussten. Seine Aufzeichnungen trug er stets mit sich, wie einen Talisman oder gleichsam eine Erweiterung seines Körpers, wie die Witwe Deborah Curtis in ihrem Vorwort mitteilt. Vielleicht wollte er seine Texte auch einfach nur beschützen.
Unvermeidliche Verkultung
Beim Suizid im Mai 1980 – und zwar am Vorabend der ersten USA-Tournee von Joy Division, die der Band höchstwahrscheinlich den internationalen Durchbruch ermöglicht hätte – war Ian Curtis gerade mal 23 Jahre alt. Eine Verkultung zum vorzeitig verstorbenen Genie war angesichts eines solchen Alters unvermeidlich. Der tragische Tod wurde zum Gegenstand endloser Spekulationen, wie auch mehrere Filme versuchten, das Enigma der Band zu enträtseln. Hervorzuheben sind dabei insbesondere die Filmbiografie Control (2008) von Anton Corbijn und der Dokumentarfilm Joy Division (2007) von Grant Gee (der fünf Jahre später mit Patience. After Sebald auch einen gutgemeinten, aber etwas misslungenen Film über Die Ringe des Saturn drehte).
Die Handschrift der faksimilierten Notate von Curtis ist zwar durchaus gut lesbar, die Lektüre der Aufzeichnungen erfordert aber dennoch ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit und Geduld. In seinen Aufzeichnungen, den Arbeitsnotizen und Vorstufen wie den Endfassungen, lässt sich oftmals die manische Energie erkennen, die Curtis antrieb, als er sich durch wiederholte Anläufe und neue Permutationen so weit vorankämpfte, bis er die Version fand, in der die Wörter in der richtigen Reihenfolge zusammenfanden und zudem zur Musik passten. So etwa in vorahnenden Zeilen wie „This is a crisis I knew had to come/ Destroying the balance I’d kept/ Doubting, unsettling and turning around/ Wondering what will come next“. Sie entstammen dem Song „Passover“, mit dem Curtis sich auf das Pessach-Fest bezieht, in dem die Juden jener Befreiung von ihrem unverschuldeten Joch gedenken, die Curtis von seinem Leiden nicht vergönnt war.
Das grand mal der Epilepsie, hartnäckige Depressionen sowie die aus einem massiven Lampenfieber resultierende Bühnenangst waren die destabilisierenden psychischen Determinanten, mit denen Curtis schreibend rang. Kaum er-staunlich insofern, dass sein Kernthema menschliches Leid ist. Für deren poetische Figurationen bediente er sich eines klinischen Vokabulars – isolation, control, terror, trauma, degeneration, failure, sorrow, fear, guilt und dergleichen Schlüsselwörter mehr prägen sein dichterisches Korpus.
Die kenntnisreiche Einleitung von Jon Savage legt überzeugend dar, wie sich der Schwerpunkt von Curtis’ Schreiben schrittweise verlagerte vom allgemeinen Ausdruck melancholischer Befindlichkeiten zu zunehmend unverhohlener Autobiografie – und damit doch eigentlich den umgekehrten Weg, den die meisten Schriftsteller gehen, indem sie im Verlauf ihrer Karriere vom Persönlichen zum Generellen vorzudringen suchen. Wenn es in einem der letzten Songs von 1980 etwa heißt: „I’m ashamed of the things I’ve been put through/ I’m ashamed of the person I am“, so fällt es schwer, dies nicht als unverstellt autobiografischen Ausdruck zu lesen.
Das gilt ebenso für den Text von „Love Will Tear Us Apart“, der unverhohlen auf die Ehekrise verweist, welche die letzten Monate im Leben von Curtis überschattete. Doch ganz so einfach ist es vielleicht doch nicht. Wie nun die erstmals zugänglichen Vorstufen zeigen, schrieb Curtis den Songtext keineswegs in einem durchwegs autobiografischen Modus. Das passt zum Umstand, dass er auch gerne im Plural sprach, um dergestalt anzuzeigen, dass er seine eigene Befindlichkeit durchaus als repräsentativ für sein Umfeld erachtete.
Stets zu bedenken bleibt, dass Curtis seine Texte nie als autonom betrachtete, sondern stets im Hinblick auf die Musik schrieb, auch wenn das grobe Textgerüst der Musik in den allermeisten Fällen vorausging. Wiederholt finden sich daher im nun publizierten Nachlass auch Textträger, in denen die Kernbegriffe, die er im Text unterbringen wollte, bereits fixiert sind, davor und danach aber große Lücken stehen, die noch wie in einem Puzzlespiel durch passende Worte ergänzt werden sollten.
Nie verfertigte Curtis die Texte nach einem Schema F, sondern experimentierte mit einer Reihe von Stilen, die von Repetition über Prosalyrik bis zu Collagen in Burrough’scher Cut-up-Manier reichten. Überhaupt operierte er gerne per assoziativer Verknüpfung verstörender Bilder. Dies erinnert nicht selten an die erzählerischen Capriccios, mit denen Ernst Jünger in Das abenteuerliche Herz traumhafte Szenen von Gewalt beschwört, oder an manche Traumaufzeichnungen von Heiner Müller. Besonders gut gelingt Curtis die Evokation von Grauen in „Atrocity Exhibition“, wo er eine Vision von Folter als Form von Unterhaltung an den Beginn stellt: „For entertainment they watch his body twist/ Behind his eyes he says, ‚I still exist.‘“, um dann in Form eines diabolischen Conférenciers – „this is the way, step inside“ – zu versprechen: „You’ll see the horrors of a faraway place/ Meet the architect of law face to face/ See mass murder on a scale you have never seen“.
Zusammen mit den ritualistischen Drums und den kakophonen Störgeräuschen des Synthesizers erweckt das Stück so ein überzeitliches Szenario des Grauens, angesiedelt an einem Kreuzungspunkt aus Dante’scher Höllenvision und faschistischem Genozid, das unverkennbar in der Tradition einer Literatur des Bösen steht, wie sie Karl Heinz Bohrer beschrieben hat.
Epileptische Anfälle
Der verrenkte Körper, welcher in „Atrocity Exhibition“ zur Unterhaltung des Publikums zur Schau gestellt wird, lässt sich freilich auch auf Curtis beziehen, da die intensiven Konzertauftritte nicht selten epileptische Anfälle auslösten, welche vom Publikum jedoch als eine besonders intensive Form von „Show“ missverstanden wurden. Während seine Bandkollegen, die nach dem Tod ihres Sängers als New Order weitermachten, jeweils ihre Instrumente hatten, besaß Curtis nur sich selbst: seine Worte, seine Stimme, seinen Körper. Die Berichte über seine Bühnenpräsenz sind legendär. Wegen seiner Epilepsie wirkte Curtis oft wie in schamanistische Trance gefallen – der zuckende Körper und das wilde Schwingen der Arme verbanden sich mit der Musik zu einer alchymischen Einheit, dem physischen Ausdruck einer kalten Ekstase als Pendant der ausgekälteten Texte in einem veritablen Theater der Grausamkeit. Kaum erstaunlich insofern, dass Curtis – wie im Band abgebildet – auch eine Ausgabe von Antonin Artauds Das Theater und sein Double besaß.
Reizvoll ist die Spekulation, wie es mit dem Autor Ian Curtis weitergegangen wäre ohne die erlösende Selbstauslöschung. Es ließe sich mutmaßen, dass er der Musik entlaufen wäre, um sich der Prosa zuzuwenden. Im hinteren Teil eines Regals fand sich, seiner Witwe zufolge, die Keimzelle eines möglichen Erzähltextes, „unwritten apart from a few paragraphs full of unspecified despair“. An das Ende des Bandes haben Deborah Curtis und Jon Savage ein Autograph als treffendes Epitaph gesetzt. Darauf steht: „Sleep through this darkness,/ in peace as you go/ Shocked by my presence,/ strike one final blow.“