Teufelshöhe

Silke Scheuermanns Kolumne „Lyrischer Moment“.

Online seit: 3. März 2015

Im Winter vor zwei Jahren besuchten mein Mann und ich die sogenannte „Teufelshöhle“ in der Fränkischen Schweiz. Dieser Ausflug (der mich später zu einem Kapitel über ausgestorbene Tiere in meinem Gedichtband anregte) begann alles in allem ziemlich banal: Wir hatten unseren Hund nicht mit zur Führung nehmen dürfen, und eigentlich war ich die ganze Tour über deswegen sauer. Da war ich, stand in der Schlange und dachte nach über die 13,8 Milliarden Jahre, die die Welt schon existierte, all das Fantastische um uns herum, und dann kamen wir dran und so eine Tusnelda in ihrem Kassiererhäuschen erklärte, der Hund könne nicht mit. Ein Canoidea, ein Hundeartiger, war doch auch der Höhlenbär! Und auch wenn ein Naturwissenschaftler es vielleicht nicht so unterschreiben würde, ich sah Tao, meinen Eurasier, und ihn als, wenn auch weit entfernte, Verwandte.

Aber nein, Hunde durften nicht mit in die Höhle. Ich war empört und hinter mir in der Schlange regten sich Leute über mein Unverständnis auch noch auf! Wieso verloren die Menschen so leicht den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge, waren besessen von unwichtigen Details, von Regeln, die sie so lange ausklamüserten, bis sie ein System über das Große und Ganze gezogen hatten und so den Blick auf alles verstellten. Sie nahmen immerzu Mängel in den Blick so lange, bis sie sie – natürlich – fanden, und dann ging das Theater los.

Nun, sie waren immerhin beschäftigt. Ich wollte ihnen zurufen: Hallo, hier gehen wir, die Menschen auf der Erde, und sind doch nur eine kurze Weile hier, inmitten all der Pracht von Gräsern und Bäumen, Schnee auf Blättern, Tropfstein und Felsen. Und dann regte sich jemand über einen Hund auf, der lieber zur Führung mitgenommen werden sollte, als gelangweilt im Auto zu sitzen? Wirklich, Leute, was ist bloß los mit euch? Ein pubertärer Zorn erfasste mich, und wäre nicht mein Mann gewesen, ich hätte keine Karte für mich gekauft, sondern mich zum Hund ins Auto gesetzt und gewartet, bis die Führung vorbei ist. Diese Menschen! Immer das Kleine wählen, wenn es das Große gibt.

In der Fränkischen Schweiz lautet die Sage, die Pottensteiner Höhle wäre der Eingang des Teufels zur Unterwelt, schon seit 1923 ist sie touristisch erschlossen, Wege und Treppen führen an den Tropfsteinen vorbei bis zum Höhepunkt der Führung, dem Höhlenbärenskelett. Es ist für Besucher hübsch inszeniert worden; lilarot angestrahlt steht es neben Stalagmiten, die wie große Kerzenstummel wachsweiß aus dem Boden ragen. Albern eigentlich – und dennoch war ich tief beeindruckt. Hier standen wir, Menschen bei der Gruppenführung, liefen unserem Guide hinterher und betrachteten das Skelett eines Tieres, das unsere eiszeitlichen Vorfahren gejagt hatten. Das vor 30.000 Jahren ausgestorben war. Wir lebten jetzt, noch – und doch würden alle hier, Kinder und Senioren, in dreißig, vierzig, fünfzig, maximal achtzig Jahren tot sein.

Auf dem Rückweg, während unser Hund mit etwas Schnee auf der Nase durch den weißen Wald tobte, dachte ich daran, dass die Reichsten in den USA sich inzwischen ihr Lieblingshaustier als Genkopie wiederauferstehen lassen können, es ist ihnen Hunderttausende Dollars wert. Man kann  Mammuts aus dem sibirischen Permafrost holen, ihre Zellkerne in die Eizellen von Elefanten transferieren und die Embryos dann auch von ihnen austragen lassen. Was wir alles können!

Wir tun so, als seien wir Schöpfer. Doch sind wir dazu berechtigt, fluoreszierende Schafe zu machen, damit Hirten mit Sehproblemen sie beaufsichtigen können, wie es Forscher in Uruguay vor zwei Jahren bereits taten, indem sie die Schafs-Gene mit Quallen-DNA versetzten? Viehdiebe konnten die Tiere ja nun im Dunkeln auch besser sehen! Bereits 2011 wurde in Südkorea ein Klonhund erschaffen, der, wann immer die Menschen wollen, im Dunkeln zum Leuchten gebracht werden kann, wenn dem Futter ein bestimmtes Antibiotikum beigemischt wurde, das auf das neu eingebaute, fluoreszierende Gen einwirkte. Man konnte den Hund quasi ein- und ausschalten.

Natürlich steckt dahinter die Idee, Gendefekte beim Menschen heilen zu können, nicht, ein originelles Spielzeug zu machen. Und doch: Vielleicht möchten russische Milliadärskinder in näherer Zukunft mit einem Dodo spielen, wie Alice im Wunderland ihn traf, oder auf dem Zwergmammut zur Privatschule reiten? Das Denken scheint über Kategorien zu verfügen, um selbst das Fremdeste noch zu verarbeiten, doch das heißt nicht, dass Unwissenheit und Ignoranz nicht doch einen großen Teil unseres Kopfes beherrschen. Dazu, viel zu verstehen, hat stets das Wissen um die Grenzen des Verstehens gehört: Zuzugeben, dass die Welt um uns so viel größer ist als wir selbst. Doch wie um Himmels Willen, dachte ich beim Spazierengehen, soll man darüber nur schreiben?

Silke Scheuermann, geboren 1973, lebt in Frankfurt am Main. Zuletzt veröffentlichte
sie im Schöffling Verlag die Romane Shanghai Performance (2011) und Die Häuser der anderen (2012) sowie die Gedichtbände Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen (2013) und Skizze vom Gras (2014).

Dieser Beitrag erschien zuerst in VOLLTEXT 1/2015.