Anfang dieses Jahres ist bei Matthes & Seitz der vierte Band mit Texten von Lew Schestow unter dem Titel Apotheose der Grundlosigkeit erschienen. Felix Philipp Ingold hat den gleichnamigen Text sowie drei weitere, kürzere Texte von Schestow übersetzt, kommentiert und mit einem erhellenden Nachwort versehen.
Bereits der Titel lässt aufhorchen. Er weist eine irritierende Paradoxie auf zwischen der Vorstellung der Grundlosigkeit, eines Abgrunds und jener des Höchsten, der Verherrlichung von etwas. Ingold vermerkt, dass das entsprechende Wort im russischen Original eigentlich den Erdboden meint. Die Doppeldeutigkeit des deutschen Wortes „Grund“ – Boden und Ursache zugleich – bewog ihn dazu, dieses Wort zu wählen. Es kommt der Absicht Schestows insofern entgegen, als der Begriff der „Grundlosigkeit“ eine Infragestellung der Notwendigkeit des kausalen Denkens, aber auch des Versuchs der systematischen Grundlegung allen Denkens und Erkennens suggeriert.
Dadurch befindet sich Schestow in Gesellschaft mit einem seiner philosophischen Hauptgegner, gegen dessen Denken er unermüdlich ankämpfte, nämlich mit Kant. Hat nicht auch Kant verschiedentlich den Schlussstein der Transzendentalphilosophie – das „Ich denke“ – als den „höchsten Grund“ für deren Einheit bestimmt? In diesem Ausdruck scheint ebenfalls das paradoxe Zusammenfallen von Höchstem und Tiefstem – einem Grund – auf, welches auf eine Spannung innerhalb der „Kritik der reinen Vernunft“ hinzuweisen vermag, die Schestow in seinen Texten zum Explodieren bringt.
Insofern könnte man die Apotheose der Grundlosigkeit mit Ingold eine „Kritik der unbereinigten Vernunft“ nennen, oder, wie der Untertitel bei Schestow programmatisch heißt, „Ein Versuch undogmatisch zu denken“. So steht auf Seite 104 Folgendes: „Denken heißt jedoch – der Logik den Abschied geben; denken, d.h. – ein neues Leben leben, sich wandeln, eigene, tief verwurzelte Gewohnheiten, eigene Vorlieben und Bindungen aufgeben, und dies ohne jegliche Sicherheit, dass alle Opfer jemals in irgendeiner Weise abgegolten werden.“
Zu Recht kann man bemerken, dass so ein Programm nicht gerade durch Originalität auffällt. Viele Namen kommen einem spontan in den Sinn, von Michel de Montaigne über Pascal, La Rochefoucauld, Kierkegaard bis hin zu Nietzsche. Und in der Tat verstand sich Schestow deren undogmatischem, nomadisierendem Denken verpflichtet.
Religion und Mystik
Dass der 1866 in Kiew geborene Sohn eines Textilgroßhändlers als Folge der Oktoberrevolution sich 1920 in Paris niederließ, sollte nicht ohne Folgen für die Entwicklung der französischen Philosophie und Literatur bleiben. Seine Texte wurden sehr bald ins Französische übersetzt und hatten einen großen Einfluss auf Philosophen und Schriftsteller wie Bataille, Malraux, Gide, Jankélévitch, Camus, Sartre, Blanchot, Bonnefoy, Cioran, Ionesco, aber auch Foucault, Deleuze und Derrida.
So erinnert sich z.B. Deleuze in Die Differenz und die Wiederholung an Schestow und „die Ohnmacht des Denkens, die er im Denken freisetzte“. Der große Einfluss, den Schestow auf die Intellektuellen Frankreichs und damit z.T. auch auf das gesamte europäische Geistesleben ausübte, macht unter anderem auch seine heutige Aktualität aus. Erstaunlicherweise ging jedoch das Wissen um diesen Einfluss nach dem Zweiten Weltkrieg verloren, was vermutlich mit dem Interesse Schestows an Religion und Mystik zusammenhängt. Dieses hatte im Frankreich der Nachkriegsjahre und der aufkommenden 68-Bewegung bekanntlich keine gute Presse.
Umso mehr muss die Publikation seiner Texte bei Matthes & Seitz in deutscher Sprache begrüßt werden. Auch in Frankreich setzt zurzeit eine Wiederentdeckung dieses provokanten Querdenkers ein. Übrigens war sich Schestow der Schwierigkeit bewusst, dass ein undogmatisches Denken nicht ohne Weiteres überlieferungsfähig ist. Und so sagt er auf Seite 131 selbstironisch: „Der definitive und letzte Triumph im Leben gehört, wie in der antiken Komödie, dem Guten und dem gesunden Menschenverstand“.
Denken und Verzweiflung
Die Bedeutung der Schriften Schestows beschränkt sich jedoch nicht nur auf seine historische Dimension. Die Apotheose der Grundlosigkeit, die in den Jahren 1899 bis 1904 verfasst wurde und 1905 auf Russisch erschien, weist eindringlich auf eine Dimension des Denkens hin, die nicht im systematischen und logischen Denken aufgeht. „Das Denken, das wahrhaftige Denken beginnt erst dann, wenn der Mensch zur Überzeugung gelangt, dass er nichts tun kann, dass ihm die Hände gebunden sind. Von daher nimmt wohl jeder tiefere Gedanke seinen Anfang in der Verzweiflung. Umgekehrt darf man den Optimismus, die eilfertige Bereitschaft, von einer Schlussfolgerung zur nächsten zu springen ohne Zögern als ein Anzeichen von engstirniger, jeden Zweifel abweisender Selbstzufriedenheit – also auch Oberflächlichkeit – qualifizieren.“ (S. 104)
Dadurch kritisiert Schestow bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen seelenlosen Maschinismus, dessen radikale Entfaltung, bis tief ins Individuum hinein, heute mehr denn je spürbar wird. Für ihn bleibt die Vernunft „unbereinigt“, weil keine Kritik, auch jene der „reinen Vernunft“ nicht, es schafft, ihre Grenzen ein für alle Mal selber zu bestimmen. Ihre Abgrenzung vom Wahnsinn, aber auch von religiösen und mystischen Erfahrungen bleibt unsicher.
Daher gibt Schestow zu bedenken, dass diejenigen, die, immer nah am Abgrund, auf den schmalen Pfaden des undogmatischen Denkens wandeln, schwindelfrei sein müssen. Konsequenterweise kommt ein solches Denken in Form von Aphorismen und „Miniessays“ daher – immer bereit abzubrechen und wieder neu anzusetzen. Sein Interesse an Schriftstellern wie Shakespeare, Tolstoi und Dostojewski, die er in Verbindung mit Kierkegaard und Nietzsche setzt, zeigt sich auch in einem Schreibstil, der nicht streng begrifflich-logisch, sondern von einem hohen Bewusstsein für den sprachlichen Ausdruck geprägt ist. Dadurch ist die Apotheose der Grundlosigkeit, von einem Dichter übertragen, auch ein Lesevergnügen.