Fragebogen: Meike Feßmann

Literaturkritik heute

Online seit: 16. Januar 2016

Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Auf anschauliche und intelligente Weise über Literatur schreiben, damit sie als differenzierte Form des Sprechens erhalten bleibt. Also einen Resonanzraum für Literatur schaffen, auch für komplizierte Texte.

Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Konzentration, Geduld, Zeit gehören zum Lesen wie zum Schreiben. Sonst entsteht flüchtiger Quatsch. Schriftsteller und Kritiker arbeiten am selben Projekt: einem bewussten Umgang mit Sprache und Stil. In einer beschleunigten Welt wirkt das altmodisch – aber das macht nichts. Es ist eine Herausforderung, kein Problem.

Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als KritikerIn?
Derrida, Foucault, Paul de Man, Roland Barthes – alle begeistert gelesen und einiges blieb hängen. Die Hermeneutik ist besser als ihr Ruf.

Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Reinhard Baumgart. Er schrieb subjektiv und genau, stets tastend, nie hämisch und bezog die eigene Leseerfahrung in sein Urteil ein. Man hatte stets den Eindruck, dass er jedes Buch der intensiven Betrachtung für würdig hielt. Für mich ist er geradezu das Exempel des „aristokratischen Lesers“, wie ihn Roland Barthes in der Lust am Text propagiert.

Wie viele Bücher muss ein/e KritikerIn gelesen haben, um kompetent urteilen zu können?
Keine Ahnung.

Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Oje, vielleicht 100?

Welche AutorInnen haben Sie mit 15 geschätzt?
Jugendliteratur fand ich langweilig. Ich habe mich bei allem bedient, was der elterliche Bücherschrank und der eigene Geldbeutel hergaben, sehr gern Martin Walser, Handke, Frisch und Beckett. Endspiel und Warten auf Godot kannte ich auswendig, die Dreisprachigkeit der Suhrkamp-Ausgabe war ein zusätzliches Vergnügen und ergiebiger als der Englisch- und Französischunterricht. Bei Spaziergängen hatte ich selbstverständlich einen Gedichtband in der Tasche oder Hesses Lektüre für Minuten. Im hügligen Schwabenland ließ sich damit wunderbar sinnieren, während der Blick zwischen Buch und Stadt durch die Gegend schweifte …

Welche AutorInnen schätzen Sie heute?
A. L. Kennedy, Brigitte Kronauer, David Grossman, Peter Handke, António Lobo Antunes, Peter Sloterdijk, Richard Ford, aber auch James Salter, Richard Yates, John Cheever.

Was lesen Sie, wenn es nicht mit dem Beruf zu tun hat?
Alles, was ich lese, hat mit dem Beruf zu tun, da er von Neigung nicht zu unterscheiden ist. Aber es gibt Momente, da genieße ich es, einfach nichts zu lesen – ein großartiges Gefühl der Freiheit!

Haben Sie in Ihrer Laufbahn als KritikerIn je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Nein.

Meike Feßmann, geboren 1961 in München, lebt als freie Literaturkritikerin und Essayistin in Berlin. Sie arbeitet unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, den Tagesspiegel und den Deutschlandfunk. 2006 erhielt sie den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik.

Quelle: VOLLTEXT 2/2015