Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Die Operationen eines literarischen Kunstwerks zu entdecken, die zugleich zu den Verborgenheiten unseres Weltverhältnisses überhaupt gehören. Einsicht also zu befördern, auch in die mit ihr gegebenen Grenzen des Erkennens.
Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
1. Dass die jeweilige Kunstkritik nur noch in spezifischen Genres mit spezifischer Nutzung durch spezifische Interessenten weiterlebt.
2. Dass sie, wenn allgemein wahrgenommen, nicht als höherer Blödeljournalismus auftritt.
3. Dass sie multimedialer wird.
4. Dass sie ihre traditionellen Qualitäten bewahren oder verwandeln kann innerhalb einer Tendenz zu Ereignissen, Auftritten, szenischem und mündlich-rhetorischem Agieren. (Der Bachmann-Wettbewerb macht da Hoffnung.)
Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als KritikerIn?
Zehn Jahre Theoriestudium und weitere zehn Jahre wissenschaftlicher Eifer bei der Lektüre liegen länger zurück, entfalten aber eine ungebrochene Hintergrundstrahlung. Man muss aufpassen, nicht zu leichtfertig in bewährte Erklärungsmuster zu verfallen; und immer natürlich: den ganz eigenen Anspruch des poetischen Werks zu vernehmen.
Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Ich habe leider keine richtig durchschlagenden Vorbilder, in gar nichts. Bei der Kritik würde ich eine Chimäre aus Friedrich Nietzsche und Eberhard Falcke beschwören: Verkappte Kritik mit Überreichweite, abgeleitet aus den alles wollenden Ansprüchen. Und klug abwägende Konzentration aufs gegebene Gegenwärtige im anderen Fall.
Wie viele Bücher muss ein/e KritikerIn gelesen haben, um kompetent urteilen zu können?
Soviel steckt doch in dieser gemeingefährlichen Frage: Lesen ist die eigentliche und permanente Bildung des Kritikers. Viel lesen ist schon gut, aber nicht das Wichtigste. Das sind die analytischen und die Verknüpfungs-Techniken. Sie sind nicht nur nicht quantifizierbar, sie sind auch emotional bestimmt. Internationaler Kampfbegriff: NO ALGORHYTHM!
Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Hängt von Beziehungskrisen, Urlaubsreisen und den schriftlichen Verlockungen ab.
Welche AutorInnen haben Sie mit 15 geschätzt?
Sartre und Camus – und von da an hat es gute zehn Jahre gedauert, bis die Literatur den Rang des begrifflichen Denkens bei mir gewonnen hat. Stichwort: Rimbaud schlägt Fichte.
Welche AutorInnen schätzen Sie heute?
Ganz viele, darunter auch Freunde, was für einen Kritiker ja schön, aber eben auch ein Problem ist. Ich schätze auch die Bachmann-Preisträger der vergangenen Jahre. Auch deswegen bin ich gerne dabei.
Was lesen Sie, wenn es nicht mit dem Beruf zu tun hat?
Leider interessiert mich fast alles, und ich muss mich täglich zusammenreißen, wieder Literatur im engeren Sinne zu lesen. Gerade interessiert mich Preußen besonders (200 Jahre Wiener Kongress; seitdem ist das Rheinland preußisch; und ich lebe in Köln und in Berlin; Frage: Sind die Türme des Kölner Doms rheinisch oder preußisch oder was?).
Haben Sie in Ihrer Laufbahn als KritikerIn je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Manchmal ist mir etwas schummerig, wenn ich an die eine oder andere Kritik zurückdenke. Manchmal auch gleich nach dem Verfassen. Doch die Stringenz eines Gedankens (die ja oft seine Eleganz verbürgt) ist eben auch was wert. Und ich habe großes Vertrauen (bisher) in das Zusammenspiel der kritischen Kräfte im deutschsprachigen Raum: Eine gute, aber vielleicht irrige Idee zu einem Buch wird idealerweise anderswo fruchtbar und zugleich korrigiert. Das wäre ja dann auch eine gute (hoffnungsfrohe) Beschreibung der Sprechsituation beim Bachmann-Preis in Klagenfurt.