Casanova im KZ

Martin Amis’ kontroversieller Roman The Zone of Interest. Von Uwe Schütte

Online seit: 23. Juni 2015

Der Nationalsozialismus – ein kompliziertes Thema, doch wie auch anders? Ein Buch, in dem es um das aufrüttelnde Schicksal der jüdischen Großmutter oder die verstörende Entdeckung geht, dass Opa ein SS-Mann war, hat recht gute Chancen, einen Verlag (und genügend interessierte Leser) zu finden. Ein Roman hingegen, in dem es darum geht, wie ein fiktiver Nazi-Dandy unbedingt die Frau des Kommandanten eines als Auschwitz erkennbaren Konzentrationslagers beschlafen will, hat es hierzulande durchaus schwerer.

Das musste auch Martin Amis erfahren, dessen letzter Roman The Zone of Interest von seinem Stammverlag Hanser abgelehnt wurde. Das sorgte im vergangenen Jahr für Schlagzeilen, da man die offizielle Begründung, das Buch sei literarisch zu schwach, anzweifelte und die Ablehnung vielmehr auf den problematischen Inhalt zurückführte. Zwischenzeitlich hat sich mit Kein & Aber ein Verlag in der neutralen Schweiz gefunden, der zur Herbstsaison eine Übersetzung auf den Markt bringen wird. Wie die deutschsprachige Kritik auf das in England hochgelobte Buch reagieren wird, bleibt abzuwarten. Vorab ist es aber vielleicht nicht uninteressant, ein wenig den Hintergrund der Angelegenheit zu beleuchten.

In England ticken die Uhren ja nicht nur deshalb etwas anders, weil das Vereinigte Königreich dem Kontinent eine Stunde hinterherhinkt. So gibt es auf der Insel erst seit 2001 einen Holocaust Memorial Day, der allerdings nur der Shoah und späteren Genoziden gilt; über die vermutlich knapp 30 Millionen Menschen, die man zu Zeiten des glorreichen Empires in Indien verhungern ließ, plus der mehreren Millionen Afrikaner, die unter britischer Verantwortung versklavt, gequält und ermordet wurden, macht man sich öffentlich keine großen Gedanken. Von dem Umstand, dass die ‚Amerikaner‘, welche den Genozid an den nordamerikanischen Ureinwohnern begingen, ja ebenso weitenteils von der Insel stammten, ganz zu schweigen. Dass in den britischen Konzentrationslagern während des zweiten Burenkriegs Zehntausende an den Haftbedingungen starben, dass die Royal Air Force im Ersten Weltkrieg gezielt Zivilisten im Irak bombardierte oder dass die Royal Navy die Immigration aus Europa flüchtender Juden ins britische Mandatsgebiet Palästina mit allen Mitteln zu verhindern suchte – von all dem wissen die Briten wenig bis nichts. Mit diesen erinnerungspolitischen Leerstellen geht komplementär eine Faszination für Hitler einher. Der weitverbreitete Stolz, es den Nazis im Weltkrieg gezeigt zu haben, vermischt sich mit einer heimlichen, als interest in German military history verbrämter Bewunderung für die machtpolitischen Erfolge des Nationalsozialismus. Inwieweit dies als Ausdruck eines tabuisierten Wunsches nach einem ethnisch bereinigten Großbritannien verstanden werden könnte, ist meines Wissens nie erforscht worden. Dass man stolz zu sein habe auf sein Land, ist jedenfalls eines der Axiome englischen Selbstverständnisses. Oder wie es im Slogan eines populären, mit Union Jack und Bulldogge verzierten T-Shirts heißt: British by birth – English by grace of God.

Solch nationalistischer Unfug darf als Reaktion darauf verstanden werden, dass in den beiden größten Städten Großbritanniens, London und Birmingham, ‚weiße Briten‘ schon seit einigen Jahren demografisch zur Minderheit gehören. Dass die offizielle Doktrin von Multikulturalismus jedenfalls nicht aufgegangen ist, führen die nahezu ghettoartigen Viertel in diesen zwei Städten, aber auch in vielen anderen Orten wie Luton, Bradford oder Leicester vor. Fährt man dort als Deutscher mit dem Taxi, kann es durchaus passieren, dass Chauffeure pakistanischer Herkunft einen dafür belobigen, es den Juden einmal ordentlich gezeigt zu haben.

Da im reißerischen History Channel wie in der (mittlerweile auch nicht mehr so) seriösen BBC ohne Ende Dokumentationen über Hitler und den Nationalsozialismus laufen, ist das nicht unbedingt verwunderlich; in der Schule wird im Geschichtsunterricht ohnehin nicht viel mehr behandelt als die Königinnen Elisabeth I. und Victoria sowie Adolf Hitler.

So gesehen überrascht es wenig, dass der international bekannteste Holocaust-Leugner ein Brite ist. Dem indiskutablen Unsinn, der von David Irving verbreitet wurde, ist allerdings  ausdrücklich entgegenzuhalten, dass nirgendwo außerhalb Deutschlands auf derart hohem intellektuellen Niveau über den Nationalsozialismus (und andere Perioden deutscher Geschichte) geforscht wird. Dies nicht nur an den Eliteschmieden in Oxford und Cambridge, womit sich Namen wie Hugh Trevor-Roper und Allan Bullock bis zu Ian Kershaw, John Röhl, Christopher R. Browning und insbesondere Richard J. Evans verbinden, sondern ebenso an vielen anderen Universitäten im ganzen Land.

Regalmeter von Forschungsliteratur

Eines freilich verbindet die britischen Historiker mit dem populären Interesse am Nationalsozialismus – die ausgeprägte Faszination für den Totalitarismus. Eine Faszination, zu der sich auch Martin Amis in Interviews anlässlich der Publikation von The Zone of Interest bekannt hat. Mit den englischen Forschungsarbeiten zum Nationalsozialismus ist Amis bekannt; in seinem Nachwort rattert er eine lange Liste konsultierter Quellen herunter und kommentiert, inwieweit sie ihm nützlich waren für die Arbeit an seinem Buch. Bereits für seine Recherchen zum Roman Time’s Arrow (1991), in dem es um die Biografie und die Untaten eines KZ-Arztes geht, hatte sich Amis durch Regalmeter von Forschungsliteratur zum Nationalsozialismus gekämpft. Offenkundig geht es ihm um die Beglaubigung historischer Faktizität für seine Fiktion, um den potenziellen Authentizitätscharakter des Erzählten zu verstärken.

Zugleich versucht Amis im Nachwort – in zwangsläufig verkürzter Weise wenngleich durchaus ernsthaft – die Frage zu skizzieren, inwieweit das verquere Denksystem der Nazis, vor allem aber die inhumanen Vorgänge in einem KZ, sich einer erzählerisch-fiktionalen Darstellung entziehen, denn „the exceptionalism of the Third Reich lies in its unyieldingness, the electric severity with which it repels our contact and our grip.“ Seine ethische wie literarische Berechtigung, mit The Zone of Interest nichtsdestotrotz den Versuch unternommen zu haben, einen Auschwitz-Roman zu schreiben, bezieht Amis aus einer Aussage Primo Levis, derzufolge man das Unbegreifliche des Holocaust weder verstehen kann noch verstehen müsse, denn das Verstehen würde nahezu zwangsläufig ein Verständnis dafür implizieren. Für Amis entfiel insofern der Zwang, den Holocaust erst erklären zu müssen, er nahm sich vielmehr das Recht, eine Geschichte darüber zu erzählen. Dies hat er in seinem 14. Roman in einer Weise getan, die in Großbritannien auf nahezu einhellige Zustimmung der Kritik stieß. Von Skandal also keine Spur; vielmehr wurde das Buch zu seinem besten Werk seit 25 Jahren
(v)erklärt.

The Zone of Interest spielt mitten im Herzen der Finsternis: einem im Buch zwar nur als „Kat  Zet“ apostrophierten Lager, das aber erkennbar Auschwitz darstellt. SS-Obersturmführer Angelus Thomsen, genannt Golo, ist der (Anti-)Held des Romans. Er ist intelligent, gebildet, sarkastisch. Im Lager dient Thomsen als Verbindungsmann nach Berlin, indem er die Errichtung einer Zweigstelle der Buna-Werke koordiniert, welches durch die Herstellung von Synthesekautschuk die ökonomische Autarkie des Reichs stärken soll. Als Lieblingsneffe von Martin Bormann genießt Thomsen ein hohes Maß an Protektion, das ihm erlaubt, seine kritische Einstellung zum bestialischen Ausrottungsgeschäft des Holocaust im kleinen Kreis durchaus offen zu zeigen, da er sich selbst als „obstruktiven Mitläufer“ sieht.

Seinen Schutz durch die Verwandtschaftsbeziehung versteht Thomsen ebenso als Freibrief für allerlei riskante Eskapaden erotischer Art auf dem Lagergelände. Abgesehen hat er es insbesondere auf Hannah, die attraktive Frau des despotischen Lagerkommandanten Paul Doll, der ein Alkoholiker, Egozentriker und glühender Nazi ist. Obgleich Hannah angesichts ihrer lieblosen Ehe den Avancen des Nazi-Casanovas nicht abgeneigt ist, scheut sie, vor allem aus Furcht vor der Brutalität ihres unberechenbaren Gatten, vor einer Affäre mit Thomsen zurück. Doch allein schon die vorsichtigen Manöver, mit denen sie sich anfangs annähern, sind genug, um einen zerstörerischen Prozess in Gang zu setzen, mit fatalem Ende für jene Unbeteiligten, die in den Rachefeldzug des Lagerkommandanten verwickelt werden.

Amis hält die Erzählung dieser unmöglichen Liebesgeschichte an einem Ort ohne Moral, an dem folglich alles möglich scheint, gnadenlos durch. Promiskuität und Genozid, Rassenhass und Eifersucht, Geschlechtsorgane und Leichenverwesung, Ehestreit und Selektion stehen unvermittelt nebeneinander. Alternierend durch die Augen von Thomsen oder Doll wird so, mit teils beiläufiger Selbstverständlichkeit, dem Leser das alltägliche Geschäft des Massenmords in allen grauenhaften Erscheinungsformen und Konsequenzen vorgeführt. Während etwa ein gelangweilter Doll ein Konzert besucht, überlegt er, wie lange es dauern würde, die anderen Zuhörer zu vergasen.

Amis konfrontiert uns mit vielen bekannten Details des Grauens, spitzt die Handlung aber immer wieder auf überraschende Konstellationen zu, anhand derer der Wahnsinn des Nationalsozialismus in schockierender Weise greifbar wird. Das betrifft insbesondere jene Episoden, in denen auch der Stimme eines Opfers Raum gegeben wird. Am Ende jedes Kapitels steht ein  Abschnitt, in dem aus der Sicht des jüdischen „Sonderkommandoführers“ Szmul Zachariasz erzählt wird, dessen entsetzliche Aufgabe es ist, die frisch selektierten Deportierten mit der Lüge von der Desinfektionsdusche erst in die Gaskammern zu locken, um danach in den Körperöffnungen der Vergasten nach Wertsachen zu suchen und die Leichen schließlich zu „entsorgen“. Szmul berichtet beispielsweise von seinem Stellvertreter, der den eigenen Zwillingsbruder belügen musste, um ihn in in die Gaskammern zu locken oder von einem gewissen Tadeusz, der seine eigene Frau mit einem Gürtel aus dem Leichenberg zu ziehen hatte.

Stimme der Menschlichkeit

Der Szmul-Erzählebene fällt die schwierige Rolle zu, ein Gegengewicht zur Täterperspektive zu liefern; mit den Gedanken und Berichten des Opfers soll so auch die Stimme der Menschlichkeit im Roman zu Wort kommen. Dass es für einen unbeteiligten Schriftsteller nicht unproblematisch ist, im Namen der Opfer zu sprechen, selbst wenn dies nur mittels einer fiktiven Figur geschieht, versteht sich von selbst. Amis bemüht sich redlich, die Umstände der Lage von Szmul verständlich zu machen und instrumentalisiert seine Figur nie. Zwar bleibt ein gewisses Unbehagen zurück, doch scheint dies immer noch besser zu sein als moralische Verbote oder sonstige Schranken für die Literatur zu errichten. Für Amis jedenfalls war die Opferebene allein schon deshalb unverzichtbar, weil es ihm in The Zone of Interest darum geht, das Konzentrationslager als einen Ort radikalster Selbsterkenntnis darzustellen: „No one knows themselves. Who are you? You don’t know. Then you come to the Zone of Interest, and it tells you who you really are“, reflektiert Thomsen zu Beginn des Romans.

Später wird er den Befund auf den Faschismus insgesamt ausweiten: „Under National Socialism you looked in the mirror and saw your soul. You found yourself out. […] We all discovered, or helplessly revealed, who we were.“

Man mag über den Inhalt von Amis’ Roman streiten, an der sprachlichen Gestaltung des Buches jedoch muss man Anstoß nehmen. Dass der englisch-deutsche hotchpotch, in dem der Text geschrieben ist, eine zentrale Schwäche darstellt, ist vielen Rezensenten des Romans nicht entgangen. Indem Amis am Ende seinen Dank an Richard Evans ausspricht nicht nur für die Eliminierung historischer Unstimmigkeiten sondern auch für die Korrekturen sprachlicher Schwächen, hat er dem angesehenen Historiker einen veritablen Bärendienst erwiesen. Der Roman nämlich strotzt nur so von Fehlern aller Art, die in ihrer Frequenz wie Natur in etwa auf dem Niveau eines Deutsch-Studenten gegen Ende des ersten Studienjahrs anzusiedeln sind – Dutzende Falschschreibungen vom Kaliber „peruke“ (= Perücke) und „Last-Kraft-Wagen“, fehlerhafte Groß-/Kleinschreibung in unzähligen Fällen, häufige Verwechslungen von c und k (wie in „Cripo“) und vieles, vieles mehr. Vor allem die Schilderung von Sexuellem geht oft schief. In der Beschreibung der Brustpartie einer Frau  heißt es zum Beispiel, sie habe „biggish Titten […]  and the Brustwarten are excitingly dark“. Fast möchte man hoffen, es stünde ein Kunstwille (und nicht vielmehr Schlamperei oder Inkompetenz des Setzers) hinter der massivsten Anomalie des Textes, nämlich der kompletten Absenz aller Umlaute, was zu irritierenden Wörtern wie „Zahlappell“ oder „Endlosung“ führt.

Versnobte Oxbridge-Zöglinge

In der deutschen Übersetzung wird das alles zweifellos bereinigt – womit aber auch ein wesentlicher literarischer Aspekt des Textes entfällt, dessen erklärter Zweck es ist, die rhetorische Kontur der LTI* dem englischsprachigen Leser erfahrbar zu machen, verweist doch Amis explizit auf sein Lektüre der Tagebücher von Victor Klemperer und anderer Quellen „for the tics and rhythms of German speech“. Dass ein Autor wie Amis, dessen souveräne Sicherheit im Umgang mit der Muttersprache viel gerühmt worden ist, sich derart der Peinlichkeit preisgibt, ist auf jeden Fall erstaunlich. Vielleicht kann der in der literarischen Intelligentzija Englands weit verbreitete, womöglich sogar endemische Snobismus der Oxbridge-Zöglinge als Erklärung dafür gelten. Wenn etwa Marlene Streeruwitz in Romanen wie Entfernung, Kreuzungen oder Die Schmerzmacherin durch eine Vielzahl von englischen Einsprengseln ihre Fremdsprachenkenntnisse vorführen will, dabei aber ebenso wie Amis zahlreiche Fehler macht, mag das noch angehen, weil es die Substanz des Erzählten nicht beeinträchtigt. In einem Fall wie The Zone of Interest hingegen muss man den Umstand als Indiz einer tendenziell arroganten Umgangsweise mit einem Erzählstoff werten, der angesichts des Bezugs auf reale Vorgänge doch etwas mehr Sorgfalt erfordert hätte.

Und hat Amis einen Grund gehabt, so fragt man sich, den Namen der Frau des Kommandanten in der jüdischen Schreibweise Hannah wiederzugeben? Und warum gibt er Nebenfiguren so penetrant teutonisch-wagnerianische Namen wie etwa den zwei Ehepaaren Suitbert und Romhilde Seedig beziehungsweise Frithuric und Amalasand Burckl? Soll das satirisch sein?

In The Zone of Interest mischen sich Verdienst und Versagen. Trotz all seiner Fehler bleibt es ein Buch, das unseren Blick auf ein Gebiet lenkt, dessen Vermessung zu den primären Aufgabenbereichen der Literatur zählt. Simplifizierende Skandalisierung hilft da nicht weiter, nur Lektüre, Kritik und Nachdenken.

* LTI – Notizbuch eines Philologen ist ein 1947 erschienenes Werk von Victor Klemperer, das sich mit der „Lingua Tertii Imperii“ befasst, der Sprache des Dritten Reiches.

Die deutsche Übersetzung erscheint unter dem Titel Interessengebiet im August bei Kein & Aber. 

 

Uwe Schütte ist Dozent für Germanistik an der Aston University, Birmingham. Jüngst erschienen ist seine umfangreiche Studie Interventionen. Literaturkritik als Widerspruch bei W.G. Sebald (Edition Text & Kritik, München 2014).

Dieser Artikel ist ursprünglich in VOLLTEXT 2/2015 erschienen.

Martin Amis: The Zone of Interest
Jonathan Cape, London 2014.
320 Seiten