Neulich

Eine Kolumne von Andreas Maier
„Und nun, neulich also, schrieb ich eine Kolumne über Udo Jürgens. Zum ersten Mal. Und einen FAZ-Artikel. Udo Jürgens hat das genau sechs Wochen überlebt.“

Online seit: 3. März 2015

Neulich schrieb ich an dieser Stelle über den österreichischen Sänger Udo Jürgens und endete mit dem Satz: „Wir gehen jetzt immer zu Udo Jürgens.“

Wie kommt das eigentlich? Wo ich bin, ist immer gleich der Tod bzw. umgekehrt. Zeitweilig war das geradezu quälend. Als meine Großmutter starb, war ich der einzige von den Enkeln, der im Land war. Ich sehe noch, wie mein Onkel J. den Akku ihres Hörgeräts aus der Krankenhaussteckdose zieht, denn er wurde nicht mehr gebraucht (der Akku, nicht der Onkel, der wurde nie gebraucht).

Oder der Tod von Onkel J. selbst: Ich saß zu Hause, ganz zufällig, eigentlich wohnte ich zu der Zeit in Frankfurt, und zwei Tage zuvor hatten sie ihn ins Krankenhaus geschafft, er hatte draußen vor der Tür gestanden, etwas grünblau ausgesehen und gesagt, er fühle sich nicht so wohl. Da er ja keine Schmerzen empfinden konnte, konnte er das nur so diffus äußern. Zwei Tage danach geht meine Mutter mit der Frau Stegmüller (Nachbarin) aus, zufällig zum Italiener hundert Meter vom Krankenhaus entfernt. Der Stationsarzt ruft bei uns an, ich gehe ans Telefon, er sagt mit diesem aufgesetzten Traurigkeitstonfall (der exakt so klingt wie der Tonfall des Mannes im Kreiswehrersatzamt, der mir unter der Deutschlandfahne und dem Bild des damaligen Bundespräsidenten Carstens mitteilte, bedauerlicherweise und zu meiner sicherlich großen Betrübnis sei ich für den Wehrdienst in der Deutschen Bundeswehr nicht verwendungsfähig), Herr J. Boll sei verstorben. Ich laufe also hoch zum Italiener, wo meine Mutter mit der Frau Stegmüller herumsitzt, gestorben war er vermutlich während der Antipasti. Anschließend gehen wir ins Krankenhaus, besichtigen, aber darüber habe ich schon andernorts geschrieben.

Oder meine Tante. Sie ertrank in der Badewanne. Ihr Mann dagegen erstickte an einem Stück Fleisch. Meinem Großvater väterlicherseits, dem Oberfinanzpräsidenten, soll meine Großmutter väterlicherseits den Gashahn aufgedreht haben (worauf dieser sich aber immerhin nicht eingelassen habe).

Manchmal musste ich nur den Telefonhörer abheben und wusste schon, worum es geht. Beispiel Studentenwohnheim. Meine jetzige Frau wohnte Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in einer 6er-Wohnung mit Gemeinschaftstelefon. Sie duscht gerade, es klingelt, ich hebe ab und weiß genau, jetzt ist ihr Großvater gestorben. Und was war? Ihr Großvater war gestorben. Und der war vorher nicht mal krank gewesen.

Oder Hoffmann, unser Russe, unsere Gartenhilfe, den sie final zusammengesägt hatten, damit er in den Sarg passte. Meine Eltern waren gerade mal wieder ein paar Wochen weg, da ruft Hoffmanns Frau an und erzählt unter Schock von der Sägerei, die sie gerade selbst miterlebt hatte. Bei der Beerdigung war ich natürlich wieder einmal der einzige Maier.

Aber auch außerhalb der Familie war es fatal. Wo ich hinging … Ich kam ans Germanistische Institut II in Frankfurt am Main, dessen berühmtester Professor Norbert Altenhofer war. Altenhofer schwebte über allem. Ich besuchte einmal eine Vorlesung, schon war er tot. Ich ging zu Segovia ins Konzert, anschließend fiel er um. Ich wollte zu einer Lesung von Hermann Burger, am selben Tag begeht er Selbstmord.

Es war nahezu folgerichtig, dass auch Siegfried Unseld meinen „Eintritt“ in den Verlag nicht sehr lang überlebt hat. Gerade war ich an die Ostsee gefahren, da ruft es morgens um sechs Uhr an, und ich fahre gleich wieder retour …

Einmal, ich glaube 2001, schlage ich in Brixen in Südtirol zufällig die Bild-Zeitung auf. Ich schlage sonst nie die Bild-Zeitung auf. Und was steht da, in der so gut wie einzigen Bild-Zeitungsausgabe meines Lebens? Der Wirt des Gemalten Hauses in Frankfurt am Main (zufällig meine Stammwirtschaft): tot, hat sich erschossen, wegen Krankheit.
Oder vor zwei Jahren, da fahren meine Frau und ich in die Wetterau zum Sommerurlaub (wir verbringen unseren Sommerurlaub immer in der Wetterau), kaum trinken wir am ersten Morgen unseres Urlaubs Kaffee, klingelt das Mobiltelefon. Die Stimme am Telefon sagt pointenverzögernd: Hast du schon gehört, wer gestorben ist?

Am Nachmittag sind wir wieder in Frankfurt zurück. Diesmal die Wirtin des Gemalten Hauses, tot, von der Treppe gestürzt.

Vor ganz kurzer Zeit habe ich von der Münchner Malerin Anne Trieba ein Bild gekauft, darauf ist sie selbst zu sehen als Kind mit Essstörung, daneben ihre Schwester als Kind ohne Essstörung, daneben ihr Vater als protestantischer Tyrannenpfarrer, ebenfalls ohne Essstörung, aber mit Backenbart. Gestern habe ich das Bild aufgehängt. Heute morgen die Mail: Vater gestorben.

Und nun, neulich also, schrieb ich eine Kolumne über Udo Jürgens. Zum ersten Mal. Und einen FAZ-Artikel. Udo Jürgens hat das genau sechs Wochen überlebt. Ich hatte damals, zu seinen Lebzeiten, sogar noch das Management von Udo Jürgens angerufen, weil die FAZ einen Satz von mir grausam (aber unabsichtlich) entstellt hatte. Aus dem Satz, es müsste endlich einmal in der öffentlichen Wahrnehmung Schluss sein mit Udo Jürgens immer nur als der Schlagersänger Udo Jürgens – – – aus dem Satz hatten sie tatsächlich gemacht: „Es muss jetzt endlich einmal Schluss sein mit Udo Jürgens.“

Das war final.

Neulich saß ich mit dem Cheflektor des Suhrkamp Verlages zusammen, kurz nach dem Tod, und wir hatten genug getrunken, um Ideen zu entwickeln. Ergebnis: Ich gehe jetzt fremd. Die Neulich-Kolumne wird für eine Weile auch zur Suhrkamp-Logbuch-Kolumne. Titel: Mein Jahr ohne Udo Jürgens. Zweimal im Monat, ein Jahr lang. Das geschieht allein aus Schutzgründen. Denn ich werde in diesen Kolumnen nur noch über Udo Jürgens schreiben. Über niemand anderen mehr. Kein Lebender wird erwähnt. Denn so kann ich wenigstens nichts anrichten.

Andreas Maier, geboren 1967, lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Zuletzt veröffentlichte er im Suhrkamp Verlag die Romane Das Haus (2012) und Die Straße (2013).

Dieser Beitrag erschien zuerst in VOLLTEXT 1/2015