Der Dschihad, der aus Deutschland kam

Ein glänzend recherchierter Abenteuerroman mit allen Schikanen: Steffen Kopetzky gelingt in Risiko eine neue Perspektive auf den Ersten Weltkrieg. Von Christoph Schröder

Online seit: 24. Januar 2016

Für den europäischen Betrachter beschränkt der Große Krieg, der Erste Weltkrieg, sich zumeist auf die Schlachtfelder des Westens; Verdun, die Schlacht an der Marne, der Stellungs- und Grabenkrieg. Man hat die Bilder und die Schilderungen dazu im Kopf.

Steffen Kopetzky hat (unter anderem) einen Roman über den Ersten Weltkrieg geschrieben, der den Blick weitet und tatsächlich erst deutlich macht, dass der Weltkrieg ein Weltkrieg war. Er nimmt uns mit auf eine deutsche Expedition, die, geplant vom Kölner Orientexperten Max Freiherr von Oppenheim und angeführt vom bayerischen Oberleutnant Oskar von Niedermayer, von Istanbul aus quer durch Persien, durch Wüsten und über Gebirge, nach Afghanistan führt; in ein Land, das zuvor noch nie ein Deutscher betreten hat und das, das ist das Frappierende, schon seit mehr als hundert Jahren von enormer geostrategischer Bedeutung ist.

Strategiespiele

Wer in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts geboren und sozialisiert wurde, dürfte, wenn er nicht vollkommen weltfremd aufgewachsen ist, an dem Brettspiel „Risiko“ kaum vorbeigekommen sein. Jenes Strategiespiel, in dem farbige Steinchen die Armeen des jeweiligen Spielers symbolisieren und dessen Gewinnziel letztendlich in der Eroberung der gesamten Welt besteht, ist ein nicht unwichtiges Element in Steffen Kopetzkys mehr als 700 Seiten umfassenden Roman.

Zum einen gibt das Spiel dem Buch seinen Namen, zum anderen gibt es im Roman eine Gruppe von Militärs, die tatsächlich „Risiko“ spielt und auf diese Weise auch dafür steht, welch unterschiedliche Sichtweisen man auf einen Krieg haben kann: Für diejenigen, die ihn planen, ist er ein Strategiespiel. Für diejenigen, die ihn ausführen, ein Kampf um Leben und Tod.

Einer der Expeditionsteilnehmer ist der Protagonist des Romans: Funkobermaat Sebastian Stichnote liegt bei Ausbruch des Krieges mit seinem Schiff, der SMS Breslau, vor der albanischen Küste. Stichnote ist ein hoch begabter Techniker und ein intelligenter und wacher Beobachter dazu. Er wird zunächst zum Freund und Vertrauten von Wachoffizier Karl Dönitz, der ihn einführt in das, was man nur raunend „Das große Spiel“ nennt: „Risiko“.

Nach einer abenteuerlichen Flucht vor der englischen Marine (und, nach einem Vorfall in Albanien, auch vor den unbequemen Fragen der Polizei), landet Stichnote in Istanbul, wo er der Niedermayerschen Afghanistan-Expedition als Funker zugeteilt wird. Das erklärte und von Oppenheim ausgetüftelte Ziel der Reise ist es, die politisch zersprengten und in unzählige Gruppierungen zerfallenen Einheimischen in einem Dschihad, in einem heiligen Krieg gegen die Engländer zu vereinen und den deutschen Kriegsgegner so an mehreren Fronten gleichzeitig aufzureiben.

Anders ausgedrückt: Der Dschihad ist, überspitzt gesagt, eine deutsche Erfindung. Zumindest war es der deutsche Plan, das islamische Radikalisierungspotenzial zu nutzen und die Lunte, die in Afghanistan historisch gelegt war, zu zünden.

Heroin und Coca-Cola

Kopetzkys Roman funktioniert wie ein Spiegel, der politisch-strategische Überlegungen des frühen 20. Jahrhunderts in die Wirklichkeit des frühen 21. Jahrhunderts zurückwirft. Man lernt, und das ist kein Vorwurf, sondern ein großes Kompliment, eine ganze Menge in Risiko, und das mit großem Vergnügen und auch im Detail, von der Erfindung des Heroins oder des Coca-Colas bis hin zu einer zeitgenössischen Interpretation der „Biene Maja“.

Kopetzky betet seinen ausgezeichnet recherchierten Stoff nicht brav herunter, sondern umformt ihn elegant literarisch. Sebastian Stichnote ist ein Leser, und seine Lektüren bilden einen Echoraum, in dem die Leitmotive des Romans in unterschiedlicher Lautstärke wiederkehren. Ein Beispiel: Mehrfach ist im Roman von Kurd Laßwitz’ Science-Fiction-Roman Auf zwei Planeten die Rede; gleichzeitig ist im Roman Risiko selbst das Problem der Versorgung mit Energie und Rohstoffen elementar und schlägt wiederum eine Brücke in die von Kämpfen um Ressourcen gezeichnete Jetztzeit.

Kopetzky betreibt Geschichtsschreibung und Kulturgeschichtsschreibung zugleich; er setzt ironische Referenzpunkte zu den Abenteuererzählungen eines Karl May und inszeniert dabei zugleich selbst einen Abenteuerroman mit allen Schikanen: Es gibt eine Liebesgeschichte zwischen Stichnote und einer Schönheit mit höchst eifersüchtigen Brüdern; es gibt Agenten und Doppelagenten, Spione, Folterungen, Morde, Grausamkeiten und überraschende Wendungen; es gibt einen schwulen Schweizer Journalisten, der aus Verliebtheit zum Islam konvertiert und einen überzeugten Sozialisten, der zum Waffenhändler wird. Hinter all dem offenbaren sich die Logik und die Mechanik eines Krieges: Es geht nicht um Haltungen, um Überzeugungen und Ideologien. Letztendlich geht es um nackte territoriale Interessen, um sonst nichts.

Risiko beginnt mit einem Cliffhanger; der Prolog setzt kurz vor dem Ende der Erzählung ein. Über 700 Seiten lässt sich dann staunend verfolgen, wie es bis dorthin kommen konnte. Und ganz zum Schluss hat Steffen Kopetzky sich gestattet, das Ende des Ersten Weltkrieges nicht nur ein wenig, sondern ganz gewaltig umzuschreiben. Das ist die Freiheit der Literatur, die in Risiko ihr utopisches Potenzial entfaltet.

Ein deutschsprachiger Geschichts- und Abenteuerroman, ungemein intelligent und klug verzahnt mit der Gegenwart, geradezu hemmungslos unterhaltsam und spannend noch dazu. Wann findet man so etwas schon einmal?

Christoph Schröder, geboren 1973, lebt als freier Autor und Journalist in Frankfurt am Main. Er arbeitet unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, die Zeit und den Deutschlandfunk.

Quelle: Volltext 2/2015

Steffen Kopetzky: Risiko.
Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2015.
732 Seiten, € 24,95 (D) / € 25,70 (A).