Alle lieben Kafka, Walser auch

Über Band 13 der neuen Werkausgabe von Martin Walser. Ein E-Mail-Wechsel. Von Klaus Siblewski
„Keine neue Autorengeneration hat sich derart unterwürfig gegenüber Vorgängern verhalten wie die junge Autorengeneration nach dem Krieg.“

Online seit: 22. Mai 2019

– Liebe Frau B., was fällt Ihnen zu 1955 ein?

– Lieber Herr K., freut mich, eine Mail von Ihnen zu erhalten.

– Liebe Frau B., ich weiß, seit eineinhalb Jahren habe ich mich nicht gemeldet, Pardon.

– Lieber Herr K., geht es Ihnen gut? Der Kreislauf, arbeitet er zufriedenstellend? Und der Blutdruck? Besteht er seltener auf seinem überdynamischen Eigenleben?

– Mir geht es gut. Die Betonung liegt auf „mir“.

– Das freut mich. Ich nehme es zu den Akten. Und wem geht es schlecht?

– Auch mir. Wollen Sie das wirklich wissen?

Martin Walser © Lesekreis
Marin Walser
Foto: Lesekreis

– Ich als Ihre behandelnde Kardiologin würde mich meinem Berufsethos nicht gewachsen zeigen, wenn ich nicht nachfragte.

– Mein Vater ist schwer erkrankt. Krebs. Mehr Metastasen als Darm. Ich bin zu ihm gezogen. Der Vater bewohnt eine große Wohnung, dort kann ich bei ihm sein und an meinen Übersetzungen weiterarbeiten.

– Ihr Vater wird es Ihnen danken und Sie sich auch.

– 1955 arbeitete mein Vater bereits. Das war aber nicht das Wichtige in diesem Jahr. Lassen Sie uns auf 1955 zurückkommen. Nicht über Krankes nachzudenken sei eine Hilfe. 1955 – was fällt Ihnen zu 1955 ein?

– Nichts, was ihn interessieren würde.

– Also gut. Kafka, er habe 1955 einen Auftritt gehabt.

– Kafka? 1955?

– Genau. Ich weiß sogar, wie Kafka damals ausgesehen hat, und ich bin bereit, diese Kenntnis mit Ihnen zu teilen. Etwas einschränken muss ich die Reichweite meiner Kenntnis. Zumindest zwei Jahre zuvor, also 1953, sah Kafka folgendermaßen aus: da stand lachend „ein Mann, dessen außerordentliche Kleidung ich zuerst betrachtete: über hellgrauen Sommerhosen eine Art weiter hellblauer Pullover, aber aus Stoff und darunter ein lose geschlungener buntkarierter Seidenshawl. Also ganz auffällig auf Künstler gekleidet.“

– Kafka, im hellblauen Pullover aus Stoff, wo haben Sie das her?

– Aus der neuen Werkausgabe von Martin Walser, erschienen bei seinem Freund Heribert Tenschert und dort zu beziehen. Dort steht das nicht direkt. Aber wenn Sie Band 13 aufschlagen, finden Sie dort Walsers Erzählungsband mit dem Titel Ein Flugzeug über dem Haus, und wenn Sie sich über den Autor in dieser Zeit und seine Erzählungen weiter informieren, stoßen Sie auf diese Beschreibung.

– Dann geht es um Walser. Narzismus in High-End-Version, Psychologen unter ihren Freunden hätten sie gewarnt.

– Nein, erst einmal gehe es um Kafka, im hellblauen Pullover, und um eine für die Entwicklung der Nachkriegsliteratur entscheidenden Szene. Solche Szenen und die dazu passenden Lektüren möchte ich Ihnen von jetzt an näherbringen. Ob sie damit einverstanden sei.

– In Ordnung. Sie wollen mich schulen, schulen Sie mich.

– 1955 hatte Kafka möglicherweise in diesem hellblauen Pullover seinen Auftritt – und zwar bei der Gruppe 47. Eine zum Künstler umdrapierte Reinkarnation des Manns aus Prag.

– Fein. Ich soll mich wundern. Ich wundere mich.

– Ein fast hübsches Gesicht hätte Kafka gehabt, wird auch noch gesagt.

– Sie könne auch in Kürzeln sprechen. Besser man reize die Wände der Blutgefäße nicht durch sich aufbauenden Innendruck. Zart sei das Material, aber gelegentlich heftig der Ärger.

– Vermutlich haben Kafkas Gefäßwände schon am Morgen dieses Tages im Jahr 1955 unter diesem ansteigenden Innendruck gelitten. In den Jahren zuvor waren seine Texte von der Gruppe schlecht aufgenommen worden.

– Sie staune, wie gut er Kafka kenne.

– Er wisse sogar noch mehr: Martin Walser habe damals die Rolle des Kafka Doubles angenommen. Kafka habe sich gegen diese Besetzung nicht mehr wehren können, aber auch wenn er noch Kraft zur Gegenwehr gehabt hätte, hätte Walser auf Nebensächlichkeiten dieser Art keine Rücksichten genommen. Außerdem war Walser nicht der Erste, der Kafka doublete. Er war gewissermaßen der letzte in einer langen Reihe von Autoren nach dem Krieg. Kafka war in Mode.

– Gut, das hätte Sie verstanden. Und 1955 hatte Kafka dann seinen finalen Auftritt?

– Final leider nicht, aber stellen Sie sich folgende Szene vor: im Mai 1955 tagte die Gruppe 47 in Berlin in einem Haus am Rupenhorn. Walser erhält eine Einladung. Er hat ein Manuskript, Titel „Templones Ende“, in seiner Tasche. Die Gruppe 47 tagt, Autoren lesen vor, was sie geschrieben haben, dann kommt Walser an die Reihe. Er steht auf, geht nach vorne, nimmt vor den anderen Platz, liest u.a. folgende Sätze: „Die Gefahren, die das Villenviertel zur Zeit zu bedrohen schienen, waren anderer Art, vielleicht waren sie schlimmer als die giftigste Insektensorte, vielleicht waren sie viel, viel harmloser; dass man das nicht recht wußte, war vielleicht sogar das Schlimmste.“

„Keine neue Autorengeneration hat sich derart unterwürfig gegenüber Vorgängern verhalten wie die junge Autorengeneration nach dem Krieg.“

– Und das ist Kafka? Wegen der Insekten. Kafka als Chiffrenlieferant einer möglichen Gefahr, von der nicht klar ist, ob sie eintreten wird oder als Gefahr nur droht.

– Genau. Obwohl zu dieser Szene ein Kafka dazugehört, den es nicht gab. Kafka, also die Prager Originalversion, hätte sich nie vor eine Gruppe anderer Autoren gesetzt und aus einem seiner Manuskripte vorgelesen. Er hat Freunde unter Autoren und hat mit diesen Freunden auch über sein Schreiben gesprochen, aber die Vorstellung, sich in Anwesenheit einer literarischen Öffentlichkeit vor anderen Autoren mit etwas neu Geschriebenen zu dem Zweck zu produzieren, einen Preis zu erhalten, hätte Kafka nie auch nur erwogen.

– Sie verstehe.

– Und die Kombination sei das Wesentliche: Ein an die Öffentlichkeit drängender Autor nehme einen öffentlichkeitsscheuen Autor als Folie für einen öffentlichkeitswirksamen Auftritt. Das sei der Clou bei der Sache. Außerdem verschob Walser Kafkas Erzählweise auf markante Art. Er hielt sie erkennbar, entfernte sich aber gleichzeitig von ihr – ein neuer Typ von Autor trat auf.

– Gut. Sie bitte um weitere diagnostische Feinbeurteilung dieses Falls.

– Das „setting“ als Ganzes sei in Walsers Erzählung verschoben. Die Insekten drohen als giftiges Zitat, mehr nicht. Im Zentrum stehe Templone, ein Mann, der mit Bodenspekulation Geld verdiene. Kafka geselle sich unter die Immobilienmakler, und dieser Immobilienmakler sei einer namenlosen Gefahr ausgesetzt. Die beschworenen Insekten dagegen wären zu ertragen. Auf sie lässt sich zeigen. Sie sind konkret, sie können als eine Erklärung für Angst herhalten. Templone würde sich in einer komfortablen Angstsituation befinden, wenn er sich nur vor diesen Insekten fürchten müsse. Er wird aber darüber hinaus von einer in ihren Absichten und Zielen nicht zu erfassenden Kraft bedroht. Ihre Herkunft bleibt unaufgeklärt, ist nicht zu ermitteln. Kafka kehrt als eine ins Ungreifbare gesteigerte Projektion sozialer Ängste an diesem Tag in Berlin auf.

– Und das soll ich lesen?

– Ich empfehle es Ihnen.

– Warum? Täte es ein Horrorfilm nicht auch. Das würde ihr den Kauf einer Werkausgabe und viele frustrierende Lesestunden ersparen.

– Nicht so schnell, er erinnere nochmals an das Jahr 1955.

– ??

– Kafka ist bei Walser konkret gewordenen. Kafka wird bei ihm zum Urnamen für ein Syndrom sozialer Angst. Jemand hat es mit ihn stark überfordernden Aufgaben zu tun. Die Aufgaben selber sind nicht nur von gewaltigen Ausmaßen, die Kräfte seiner Figuren schrumpfen und ziehen sich zurück angesichts von deren Größe. Walser selber litt damals unter heftigen Selbstentwertungsattacken. In einem Brief an seinen Lektor Siegfried Unseld schrieb er: „Ich habe in den letzten drei Wochen wieder einmal versucht, an den Lügenmauern meines verwöhnten Daseins zu rütteln, aber so widerlich war das Ergebnis, so zerstörend auch (leider nicht nur für mich), daß ich glaube, ich muß jetzt ein Viertel Jahr doppelt sanft lügen …“ Hier kommunizieren im Verborgenen Röhren miteinander.

– Mich freut, dass jemand sich anklagt und einen Herrn Templone findet (erfinden kann), auf den er diese Anklagen als diesen Mann attackierende Insekten abladen kann. Aber soll Sie heute nach der Sprechstunde zu ihren Mitarbeiterinnen gehen und sagen, sie würde den Abend mit einem Buch verbringen, in dem ein Autor seinen Selbstekel in Insekten umarbeite, und sie diesen Autor bei dieser Umwandlung begleiten wolle? Das würde keine ihrer Sprechstundenhilfen aber auch niemand anderer unterer ihrer Bekannten verstehen.

– Aber Sie werden von der Beschäftigung mit diesen literarisch gestalteten Ängsten profitieren! Sie erfahren hier, wer in der Nachkriegsbundesrepublik Karriere machte und diese Bundesrepublik mit aufbaute. Im Grunde wollte Mitte der 1950er-Jahre niemand mehr etwas von Kafka hören. Walser hat Anfang der 1950er über Kafka promoviert – und hätte gewarnt sein müssen: Wer im Jahr 1955 mit Kafka sein Schreiberglück versucht, hat besser nicht an Erfolg geglaubt. Doch Walser hatte Erfolg. Er wurde mit dem Preis der Gruppe 47 ausgezeichnet. Eine große Ehre zu dieser Zeit.

– Gruppenamnesie einer strukturell besonders intensiv sich ausbreitenden Ausprägung?

– Vergessen wurde tatsächlich erst einmal nichts. Das Ereignis war auf Aufmerksamkeitproduktion angelegt und Zeitungen verbreiteten die Nachricht vom erfolgreichen Auftritt des Autors. Das ist wichtig, um diese Szene in ihrer Wirksamkeit zu verstehen. Aber das war nicht der alleinige Aufmerksamkeitswert dieser Szene. Die mit dem Preis der Gruppe 47 prämierte Erzählung enthielt im Kern den Entwurf eines erolgreich werdenden Handlungsmodells: Es bestand aus einer Kombination von Depression und zwanghaft-rücksichtlosenem Arbeiten für Erfolg.

– Dann soll sie als eine Art Mentalitätsforscherin diese Erzählungen lesen. Bisher dachte sie, es gehe um Literatur und Literatur sei etwas Schönes.
– Beide Sichtweisen lohnten sich. Die der Mentalitätsforscherin und die der Liebhaberin von Literatur. Noch heute lebten wir von diesem Modell des Handelns – und von einem speziellen Vergessen, das dieses Handeln schuf. Man verhielt sich kritisch zur Gegenwart, war nicht einverstanden mit dem, was einen an einem befriedigenden Leben hinderte, sprach es aus und musste kein gesteigertes Bedürfnis für die Beschäftigung mit den historischen Gründen der verbreiteten Depressionen entwickeln. Man litt, und musste angesichts dieses Leids nicht nach den Narben des Krieges und deren Folgen forschen.

– Sie sprechen von einer Art von hoch aufgeklärtem Verdrängungsmodell – nicht zu vergleichen mit den unzähligen Nazis, die als überzeugte Demokraten nun ihren Wirtschaftswunderdienst taten.

– Genau. Außerdem – auch das zeichnet die neue Autorengeneration aus – schrieb Walser nicht mehr aus der Haltung von Soldaten, die voller Schuldgefühle aus dem Krieg zurückkehrten und sich nun anklagend an die eigene Brust schlugen. Walser begannen ihre Kämpfe erst nach dem Krieg auszufechten. Sie arbeiteten, wie mein kranker Vater auch, voller Energie für das Neue – und wie diese neue Generation, nicht nur die Autoren unter ihnen, sich fühlte und welche Literatur die ihre war, dafür stehen diese Erzählungen.

– Sie soll sich also mit der Literatur der Elterngeneration, sie sei Mitte der 1960er Jahre geboren, der Großelterngenration beschäftigen?

– Ja, unbedingt. Und noch etwas Merkwürdigem, für mich noch immer Ungeklärtem würde sie dabei begegnen. Der nicht vorhandenen Scheu dieser jungen Autoren, älteren, berühmten Autoren zu folgen. Diese Generation habe Kafka aufgesogen oder sich in die Nachfolge von Camus gestellt oder Hemingways Stil nachgebaut – und hatten keine Scheu vor dieser Gefolgschaft. Sie wollten nicht eigenständig sein, sahen es sogar als einen Ausweis literarischer Qualität an, wenn Leser mitbekamen, welchem berühmten Autor sie huldigten. Keine neue Autorengeneration hat sich derart unterwürfig gegenüber Vorgängern verhalten wie die junge Autorengeneration nach dem Krieg. Auch das ein Phänomen.

– Also doch bohrendes Selbsterforschen und wenig Vergnügen?

– Ein bisschen Anstrengung darf schon sein. Und zu der die Nachkriegsliteratur prägenden Szene des Jahres 1955 gehört noch die Lektüre eines Gedichts. Der Titel: „Lilien aus Schlaf“. Ihr Autor Günter Grass. In dessen Werkausgabe finden Sie das Gedicht in Band 1 auf Seite 571. 1955 wurde Günter Grass vom Südwestrundfunk für dieses und andere Gedichte ausgezeichnet. Er, der Gegentyp zu Walser, ohne ihn wäre die Nachkriegegeneration der jungen Autoren allenfalls zur Hälfte zu verstehen – dieser Autor kam von weit her, von Danzig, aus dem Stadtteil Langfuhr. Die Rückkehr in die Gegend seiner Herkunft war ihm versperrt. Aus Danzig wurde die polnische Stadt Gdansk. In Düsseldorf fand er sich nach 1945 wieder – und dieser Ortswechsel führte zu einem Werk vollkommen anderer stilistischer und intellektueller Ausprägung. Erster Unterschied: Beklagt über die Schwere seines Lebens hätte sich Grass nie…

– Ich danke ihm dafür, und Ihnen für die Lesehinweise und bitte grüßen Sie Ihren Vater von mir.

– Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben. Und mein Vater hat sicher Spaß an den Grüßen einer ihm fremden Frau.

 

Klaus Siblewski ist Lektor, Gründer der „Deutschen Lektorenkonferenz“ und Professor für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft in Hildesheim. Zuletzt erschien Der Gelegenheitskritiker (Residenz 2017).

Quelle: VOLLTEXT 1/2018 – 26. März 2018

Online seit: 22. Mai 2019

Martin Walser: Gesamtausgabe letzter Hand
25 Bände, Heribert Tenschert, Bibermühle 2017
Zu beziehen über: www.bibermuehlenbooks.com