Im Namen des Guten

In seinem Roman Der Circle nimmt sich Dave Eggers gewichtiger Themen an.
Erzählt wird leider etwas bieder. Von Thomas Lang

Online seit: 3. März 2015

Seit drei Tagen versuchte Mara vergeblich sich auf Facebook einzuloggen. Sie hatte ein Service-Mail erhalten, in dem versprochen wurde, das Problem schnell zu beheben, dann ein weiteres E-Mail, das einen Link ankündigte, mit dessen Hilfe sie ihre Zugangsdaten zurücksetzen könnte. Der Link wurde ihr nicht zugesandt. Seit einem Tag kam sie gar nicht mehr an ihre in der Cloud gespeicherten Daten. Sie konnte Mails weder senden noch empfangen. Sie rief mehrmals bei der Hotline des Cloud-Hosters an, flog aber jedes Mal binnen zwei Minuten aus der Leitung. Von einer Freundin, die einmal im Monat zu Besuch kam, erfuhr sie, dass viele ähnliche Probleme hatten. Einige vermuteten, dass die Premium-Kunden der größten Provider einfach zu viel Traffic erzeugten. Andere wollten wissen, dass ein wichtiger Backbone ausgefallen war und niemand die Reparatur bezahlen wollte oder konnte. Mara setzte einen Tweet ab, „Sch… Internet“, auf den niemand reagierte, obwohl sie fünfzehnhundert Follower hatte. Am Nachmittag meldete ihr Kühlschrank, dass er vergeblich bei vier verschiedenen Supermärkten Sojamilch bestellt hatte. Der Smart Fridge machte öfters Mist, deshalb wollte sie sich nicht auf ihn verlassen. Also ging sie los, um selbst Sojamilch zu kaufen. Der Kühlschrank hatte recht, es gab keine Sojamilch. Zum ersten Mal seit fünfeinhalb Jahren kaufte sie Kuhmilch. Sie nahm etwa hundert Milliliter davon mit ihrem Müsli zu sich und ihr wurde schlecht. Das E-Paper ihrer Tageszeitung konnte sie am Abend mühelos runterladen. Allerdings war nur die Titelseite neu (der Rest von gestern) und ohne Nachrichtenwert. Seit dem unrühmlichen Ende von Skype hatte Mara sich ganz auf WhatsApp verlegt. Doch seit dem letzten Update ihres Betriebssystems stürzte die App jedes Mal ab, wenn sie darauf zugreifen wollte. Ein Fix war angekündigt, bis jetzt aber nicht rausgekommen. Später telefonierte sie auf einer ziemlich holprigen Line mit ihrer Mutter. Um 21.38 Uhr ging sie schlafen. Ihre Mutter hatte gesagt, sie solle hoffen. Ohne die Ermunterung ihrer Netz-Community fiel ihr das schwer.

So könnte sie ja auch aussehen, unsere ominöse digitale Zukunft. Angesichts groß angelegter Umbauten staatlicher und gesellschaftlicher Systeme fast überall auf der Welt und drohender neuer Finanz- und Energiekrisen scheint ein runtergekommenes, höchstens noch für Viel-Zahler attraktives Internet nicht völlig unwahrscheinlich. Dave Eggers hat sich in Der Circle anders entschieden. Bei ihm bietet die Technik unbegrenzte Möglichkeiten, die Algorithmen werden zunehmend perfekt, doch die Absichten sind perfide.

Die junge Mae Holland bekommt einen Job beim Circle, einer gigantischen Internetfirma, die einem Zusammenschluss von Google, Apple, Facebook und Co. gleicht. E-Commerce und SocialMedia profitieren von „TruYou“. Dieses System schafft die Anonymität im Netz ab, es gibt für User nur noch eine, nämlich ihre echte Identität, ein Passwort, ein Bezahlsystem – „ein einziger Button für den Rest deines Onlinelebens.“ TruYou hat enormen Erfolg, der gestiegene Komfort überwindet jeden nennenswerten Widerstand. Das Internet, wie wir es kennen, ist in Eggers Roman tot.

Mae, die vorher bei den rückständigen Stadtwerken in der kalifornischen Provinz arbeitete und dort nicht nur vom Achtzigerjahre-Ambiente unterfordert war, ist von ihrem neuen Job geflasht. Ein supermoderner Arbeitsplatz, ein irrer Campus mit zehntausend Kollegen, wöchentliche Meetings, die wie Gottesdienste zelebriert werden, Sportmöglichkeiten, kostenlose Konzerte, Zirkus, interne Interessenvernetzung – der Circle bietet seinen Mitarbeitern praktisch alles. Und endlich ist sie auch gefordert. Sie arbeitet zunächst in der Customer Experience (CE). Dort ist sie für die Kommunikation mit Firmenkunden zuständig, die dem Circle Geld einbringen. Die Kunden werden nach jedem Kontakt aufgefordert, die Kommunikation zu bewerten. Dazu ist eine Skala von 1 bis 100 da. Ziel der Circler ist es, mindestens 95 zu erreichen. Und ehrlich, 95 ist nicht wirklich gut. Viele schaffen 98. Auch Mae schafft das. Ist ein Rating unter 100, schickt sie dem Kunden ein „Follow-up“, einen weiteren Fragebogen. Die meisten Kunden geben dann mehr Punkte.
Mae ist motiviert, sogar ehrgeizig. Sie hofft, aufzusteigen. Sie träumt, kurz gesagt, den amerikanischen Traum in seiner neoliberalen, globalisierten Variante: Du kannst alles schaffen, wenn du alles gibst und dich selbst optimierst. Die Mitarbeiterführung des Circle beruht auf Motivation, aber überall unter der jung-dynamischen Oberfläche lauert ein unheimlich rigides System. Bevor Mae sich versieht, sind alle Daten von ihrem Notebook in der Circle Cloud gelandet, sie hat nicht länger die Hoheit über ihre Informationen. Im Gegenzug bekommt sie von ihrem Arbeitgeber die neuesten technischen Gadgets.
Beim Gesundheitscheck schluckt sie unbemerkt einen Sensor, der in einem Smoothie versteckt ist. Eine Alternative hätte sie auch nicht gehabt, wäre sie vorher gefragt worden. Sie hat ihren Arbeitsvertrag unterschrieben, ohne richtig hinzuschauen, und mit diesem Vertrag hat sich der Circle unter Vielem anderen zusichern lassen, dass er ihre sämtlichen aktuellen, durch ein umfassendes Monitoring erhobenen Gesundheitsdaten sammeln und in die Cloud laden darf. Ihre alten Krankenakten werden angefordert und ebenfalls hochgeladen.

Besser durch Transparenz

Mae wird zunehmend sozial und transparent. Ihr großes Vergnügen, einsam Kanu zu fahren, trifft im Circle auf Unverständnis und Ablehnung. Einmal ist der Verleih geschlossen, und Mae nimmt sich einfach ein außerhalb des Geländes liegendes Kanu. Diesen Diebstahl zeichnen die Kameras des Circle auf, die nach und nach die Welt erobern, alle wissen nun davon. Sie wird sich eine derartige Übertretung nicht mehr erlauben. Die Transparenz scheint sie zu einem besseren Menschen zu machen.
Schwerer fällt es ihr, die sexuelle Intimität aufzugeben. Als sie mit ihrem Kollegen Francis rummacht, muss sie anschließend feststellen, dass er das Ganze gefilmt hat. Sie verlangt, dass er den Film löscht. Das geht aber gar nicht, weil die Datei auf seinem Smartphone und damit automatisch in der Cloud ist. Mae kann nur hoffen, dass der peinliche Clip in all den Circle-Daten untergeht wie ein Tropfen im Meer.

An ihrem Arbeitsplatz bekommt sie einen Bildschirm nach dem anderen hingestellt, sieben werden es insgesamt, um verschiedene interne und externe Social-Media-Dienste zu bedienen. Sie „zingt“ kurze Statements, verteilt und erhält Smiles und Frowns. Im Partizipations-Ranking des Unternehmens steigt sie immer höher. Ein Algorithmus berechnet dabei eine Zahl, die umso niedriger liegt, je mehr ein Mitarbeiter sich in den sozialen Netzwerken, aber auch bei Campus-Aktivitäten engagiert. „Jedes Mal, wenn du irgendwas postest oder kommentierst oder irgendeine Veranstaltung besuchst, wird das miteingerechnet“, erklärt ihr ein Mitarbeiter, „und dein Ranking verändert sich entsprechend. Das macht dann richtig Spaß.“

Auch hier gibt es eine magische Grenze. Der Kreis der 2.000 Besten (2TK) ist schwer zu erreichen. Mae schafft es mit hemmungsloser Selbstausbeutung. Das behaviouristische Belohnungsmodell und die geradezu mechanische Folgsamkeit, mit der die Circler auf Rangsysteme reagieren, gehört zu den wirklich schauerlichen Dingen in diesem Roman. Hopp oder Top, Drin- oder Draußensein – mehr braucht es offenbar nicht, um Menschen in den Arsch zu treten. Für Mae gipfelt das Ganze in einem Testlauf für ein Tool, das der Welt Direkte Demokratie bringen soll. Die Mitarbeiter werden beim Test gefragt, ob Mae spitze sei. Sie bekommt 97 Prozent Smiles. Von inzwischen über 12.000 Kollegen, so rechnet sie, haben ihr rund 370 ein Frown gegeben. Das kränkt ihre von ständigen Aufstiegen in Bewertungssystemen aufgepeitschte Eigenliebe zutiefst.

Die Kamera läuft permanent

Interessanterweise macht sie im Unternehmen nicht wirklich Karriere. Als „Transparente“ mit einer permanent laufenden Kamera ausgestattet, läuft sie zwar meistens auf dem Firmen-Campus herum, stellt der in die Milliarden gehenden Circle-Community verschiedene Aspekte des Unternehmens vor und wird damit eine Art Star, die vielleicht bekannteste Person der Welt. Sie hat Kontakt mit den Bossen und nimmt teil an Treffen der „Vierzigerbande“ der wichtigsten Circler. Formell bleibt sie aber Teil der CE und damit auf einer unteren Hierarchie-Stufe. Immer wieder kehrt sie in diesen Bereich des Circle zurück, um mit „richtiger“ Arbeit die düsteren Gedanken, den Riss zuzudecken, den sie in sich aufgehen spürt.

Maes Arbeitsprozess erinnert an den der frühen Telefonistinnen, deren Arbeit wie ein Brennglas der vor hundert Jahren grassierenden Neurasthenie (einer ursächlich wie symptomatisch schwammigen „nervösen“ Erkrankung) wirkt. Damals klagte eine Telefonistin: „Setzen Sie einmal, die siebente oder achte Stunde am Tag, das Mikrofon am Ohr ein paar Dutzend Schnüre und Lampen und zehntausend Klinken vor sich und alles durcheinander: Rufzeichen und Fragen, Verbindungen, wieder Trennen und Zwischenfragen, Schlusszeichen und sieben Beschwerden; dazwischen wieder trennen und eine Automatenverbindung (mit vier Schnüren, fünf Rückfragen und wieder verbinden!), ungeduldiges Lämpchenblinken und ‚nochmals rufen‘ und einmal ‚Feuerwehr‘ und dann die Aufsicht und dann das Fernamt, und wieder trennen. Und finden Sie einmal unter zehntausend Nummern die richtige in einer halben Sekunde und hauen Sie nicht daneben und behalten Sie im Kopf, daß der gelbe Stöpsel in dieser Klinke das, der grüne in jener dies, und der gekreuzte wieder etwas anderes bedeutet. Und dann bleiben Sie ganz ruhig, denken Sie nur an Ihr Fernsprech-Dialog-Lexikon mit seinen 50 Frage-Antwort-Formeln und unterstehen Sie sich, einmal Ihre Nerven sprechen zu lassen.“ (Zitiert nach Radkau, Das Zeitalter der Nervosität)

Hier genauso wie bei Eggers wird ein Zeitphänomen am besten an einer Kommunikations-Schnittstelle sichtbar. Maes Job ähnelt dem der Telefonistin auf verblüffende Weise. Sie vermittelt zwischen Circle und Außenwelt, ihre Monitore bilden außerdem das Sichtbare der Circle-Welt ab. In seinen Tiefen bleibt das Unternehmen rätselhaft – irgendwo in seiner Unterwelt stehen riesige Rechner, die Mae zwar mal zu sehen bekommt, die im Übrigen aber unangetastet bleiben. Die mangelnde Technizität ist von technisch versierten Leuten, etwa im Magazin Wired, kritisiert worden. Sie hat aber den Vorteil, die digitale Welt so abzubilden, wie die Mehrzahl der Nutzer sie empfinden dürfte – letztlich als eine auf ominösen Rechenoperationen, quasi göttlichen Algorithmen basierende mystische Welt. Sie funktioniert wie eine Zaubershow mit tollen Effekten, die umso mehr faszinieren, als die zugrunde liegende Technik nicht mitbedacht, geschweige denn mitbegriffen wird. Eggers Roman bedient sich weniger des echten als eines gefühlten Internet.

Dennoch ist es bedauerlich, dass Mae im Verlauf der Handlung nicht wirklich Macht gewinnt. Sie hat Einfluss auf das sexuelle Erregungslevel von Francis oder auf das, was Millionen von Usern am Bildschirm sehen. Die lenkbare Masse folgt ihr am Ende bei der Suche nach einer Kriminellen und bei der Jagd auf ihren Ex-Freund Mercer. Dieser ist ein Verweigerer der schönen neuen Circle-Welt und versucht, sich im Off(-line) zu verbergen. Aber die Circle-Kameras finden ihn, Drohnen verfolgen ihn und treiben ihn schließlich in den Tod als den einzigen Bereich, der sich dem Circle entzieht. Gleichzeitig zeigt sich hier am deutlichsten, dass Mae im Grunde Opfer ist, nicht mehr als ein Spielball in der Flut der Belohnungs- und Sanktionssysteme des Circle. Sie hat nichts Wesentliches zu entscheiden. Mercers Tod ist so gesehen die unbeabsichtigte Folge einer von Mae unabsichtlich ausgelösten Hatz.

Mit der Liebe klappt es bei ihr nicht besonders gut. Ihren früheren Lover und Lieblings-Schwiegersohn der Eltern, eben Mercer, findet Mae zunehmend unattraktiv, er ist nicht fit (dick), er macht Lampen aus Hirschgeweihen (uncool, potenziell tiergefährdend) und will sie nicht mal über Social-Media vermarkten (blöd). Mercer übernimmt den Part der kritischen Stimme in dem Buch: er ist jemand der sich nicht von Hypes lässt, der das direkte und exklusive Gespräch bevorzugt, der nicht auf alle Welt wirken will. Er ist nicht berechnend, weder will er aus seinem Geschäft das Maximum herausholen noch aus seinen menschlichen Beziehungen. Aber Leute wie er finden keinen Platz mehr in der Welt. Der Mann, den Mae im Circle kennen lernt, folgt einer anderen Ökonomie der Liebe. Für Francis ist die Beziehung zu Mae etwas, das sich managen und ausbeuten lässt. Er outet schon ziemlich am Anfang sein Interesse an Mae auf offener Circle-Bühne, ohne sie um Erlaubnis zu bitten. Wenn sie Sex haben, will er nachher ein Rating. Francis leidet unter vorzeitigen Samenergüssen. Die unbefriedigte Mae gibt ihm dennoch eine glatte 100. Und er hinterfragt das nicht. Eine andere Sache läuft mit einem geheimnisvollen Mitarbeiter, der ab und zu auftaucht und ihr ein paar Geheimnisse des Circle zeigt. Bei Kalden wird Mae leidenschaftlich, sie fühlt sich beinah verliebt. Doch je weniger sie über ihn rausfinden kann und je mehr er sich ihr auf einer intransparenten Ebene der Heimlichkeiten nähert, desto weniger hat sie für ihn übrig. Am Schluss verrät sie ihn.

Emotionen der Nutzer

Maes emotionale Flachheit passt perfekt in die Circle-Welt. Der Philosoph Byung-Chul Han hat darauf hingewiesen, dass das Internet kein Ort für Gefühle, sondern allenfalls für Affekte und Emotionen ist. Gefühle beschreibt Han als „konstativ“; sie stellen etwas fest, lassen Dauer zu und haben eine „narrative Länge oder Breite“ (zitiert nach Han, Psychopolitik). Das sind Eigenschaften, die zum fließenden Charakter des Internet nicht gut passen. Emotionen dagegen beschreibt Han als „dynamisch, situativ und performativ“. Deshalb setzt das kommerzielle Internet – oder allgemeiner mit Han gesagt: der neue, smarte Kapitalismus – stark auf die Emotionen seiner Nutzer. Emotionalität verbinden wir mit einem Gefühl der Freiheit, und der Wunsch nach Freiheit wird im Neoliberalismus gründlich ausgebeutet. Das geht einher mit einem Abbau von Kontinuitäten und der Ausweitung von Unbeständigkeiten (etwa befristeten Arbeitsverträgen oder eben „freier“, also rein auftragsbezogener Mitarbeit). Obwohl die von Eggers beschriebene Arbeitswelt in dieser Hinsicht recht konservativ wirkt, sind in ihr die neoliberalen Mechanismen doch eindeutig am Werk.

Die wenigen Gefühlstiefen des Romans kommen aus der alten Welt von Maes Eltern. Da ist ein bewegender Moment, in dem ihr an Multipler Sklerose leidender Vater sich in die Hosen scheißt. Mae begreift nur schwer, dass sie nichts tun kann, um ihm zu helfen, außer sich zu entfernen: Intimität zu gewähren. Und da ist der Augenblick, in dem die schon transparente, ihren gesamten Alltag mit der Kamera aufzeichnende Mae ihre Eltern bei den Vorbereitungen zum Sex überrascht. Die Szene geht sofort um die halbe Welt. Doch diese unpassenden Momente des analogen Lebens werden vom neuen digitalen gleich planiert, kommentiert, geratet, besmilet und befrownt.

Die Vollendung des Circle per Pflichtmitgliedschaft kommt gegen Ende leider zu kurz. Neben zahlreichen Ideen zur immer lückenloseren Überwachung der Welt im Namen der Sicherheit ist es vor allem die Übernahme der Politik durch das Privatunternehmen, das zur Vollendung des Megakonzerns beiträgt. Zum einen gewinnt er zunehmend an Einfluss auf Politiker, die sich zu profilieren hoffen, indem sie sich transparent und damit ehrlicher machen. Zum anderen entwickelt der Circle auf Anregung Maes „DemoVis“, mit dessen Hilfe sich die Ergebnisse von Umfragen quasi in Echtzeit erfassen lassen. Ziel ist es, mit diesem System Wahlen durchzuführen. Zusammen mit TruYou könnte DemoVis zu einer zuverlässig kontrollierbaren Wahlpflicht führen – eine Horrorvision für viele Demokraten.

Diese Vermischung von Privatwirtschaft und Staat oder, in der zugespitzten Perspektive, die Marginalisierung des Staats durch große Privatunternehmen könnte die eigentliche Bedrohung unserer Freiheitsrechte in den kommenden Jahrzehnten darstellen. TTIP etwa könnte mit der Aushebelung der demokratisch institutionalisierten Gerichte durch private Schiedsgerichte bei Handelsfragen einen Schritt in diese Richtung bringen. Und die Finanzkrise von 2008 hat gezeigt, in welchem Maß Staaten schon heute von Teilen der privaten Wirtschaft abhängig sind. Leider reduziert Eggers sein Szenario in diesem Punkt auf eine neue Version des Orwellschen Überwachungsmechanismus und lässt die eigentlichen politischen Implikationen seiner Geschichte außen vor.

Applikationen gegen Kriminalität

Die Auseinandersetzung um Sinn und Unsinn von Transparenz und Erkennbarkeit der echten Identität des einzelnen Nutzers im Web trifft er dagegen ganz gut. Als die Attentäter von Boston nach wenigen Tagen anhand der Bilder von Überwachungskameras, die eine Gesichtserkennung mit Facebook-Profilen abglich, identifiziert wurden, war das ein großer Erfolg für die Befürworter von Datentransparenz. Leider hat Edward Snowden ihnen in die Suppe gespuckt, indem er offenlegte, wie Staaten die neuen technischen Möglichkeiten nutzen, um alle möglichen Daten aller möglichen (so genannten unbescholtenen) Bürger zu sammeln und durchsuchbar zu machen. Auch das vom Internet Archive (archive.org) festgehaltene, im Netz nur eine halbe Stunde lang aufzufindende Posting der Separatisten nach dem Abschuss eines Flugzeugs über der Ukraine im Sommer 2014 ist ein Beispiel für den Nutzen von Datensammlungen. Im Namen der guten Sache werden denn auch beim Circle alle Ausweitungen der Datensammelei und der Kontroll-Tools gerechtfertigt; ständig dienen die neuen Applikationen des Unternehmens der Abnahme von Kriminalität oder Korruption oder Einsamkeit. Die neue digitale Welt wird uns als positiv verkauft, mögliche Nachteile sind für den Einzelnen kaum spürbar.

Insgesamt trägt Eggers dick auf und lässt so manche Differenzierung unter den Tisch fallen. Die heutige Internet-Wirtschaft arbeitet an der Durchdringung ihrer Nutzer mittels Profiling und Emotionserkennung vor allem zu dem Zweck, die Werbe-Industrie zu bedienen. Es geht banalerweise darum, durch minimierte Streuverluste bei der Werbung möglichst viel Geld zu verdienen. Dennoch kann es einen perplex machen, wie bereitwillig viele Menschen alles mögliche Private von sich preisgeben, um ein bisschen dazu zu gehören. Das Ganze angeblich kostenfrei. Viele Menschen besorgt diese Entwicklung und Der Circle genauso wie die Betrachtungen Byung-Chul Hans können einer fatalen Paranoisierung Vorschub leisten. Insofern ist es schade, dass Eggers einerseits die Bedrohung übertreibt, andererseits das immer noch vorhandene anarchische Potenzial des Netzes völlig außer Acht lässt. Allerdings tut Houellebecq in Unterwerfung, bezogen auf das französische Staatswesen, nichts wesentlich Anderes und ist dafür viel gelobt worden.

Der Unterschied liegt vielleicht darin, dass Eggers’ Roman das Skandalöse seiner Handlung nicht so gut zutage fördert. Es ist ihm nicht vorzuwerfen, dass er brutal reduziert und übertreibt oder den – im richtigen Leben – doch zu erwartenden Widerstand angesichts einer solchen Entwicklung ignoriert. Problematisch ist eher, dass das eigentlich Ängstigende an seinem Szenario im Dunkel bleibt. Interessant wäre zu fragen, wie gut Algorithmen wirklich sind, wenn es darum geht, das zu erkennen und zu beschreiben, was uns menschlich gesehen ausmacht. Ob sie Erkenntnisse zutage fördern oder nur die zweifelhafte Summe der Teile. Houellebecq dagegen analysiert die Gesellschaft, in der sein Roman spielt, wenn auch recht schlagwortartig.

Beiden gemeinsam ist, dass sie der Prosa formal wenig Aufmerksamkeit widmen. Bei Eggers zeigt sich das in einer braven, widerstandsfreien Erzählweise. Es fehlt seinen Figuren eigentlich eine unbewusste Dimension bzw. sie wird nur als „Riss“ erahnbar, als das Unbekannte, das die Rechnung nicht völlig aufgehen lässt. Die Narration scheint sich in zahlreichen Romanen der letzten Jahre zunehmend der Konsumierbarkeit zu fügen. Chronologie, Monoperspektivität und Plot-Stringenz, ein allgemeines Sinken der Ansprüche an die Leser folgen auf die einst als Befreiung empfundenen herausfordernden Konstrukte moderner und postmoderner Autoren. Die Korrekturen Franzens lösen die Korrektur Bernhards ab, um es mit dem amerikanischen Autor Ben Marcus zu sagen. Das verringert den Facettenreichtum und die Nachhaltigkeit des literarischen Genusses auf Kosten von Erfolgserlebnissen bei der Lektüre.

Bücher wie die von Houellebecq, Franzen, Eggers, Murakami lassen sich leicht durchlesen. Das Scheitern an anspruchsvollen oder hermetischen Texten scheint zu einem Vergnügen der Vergangenheit geworden zu sein.

In diesem Zusammenhang komme ich noch einmal auf Byung-Chul Han zurück. Er beschreibt „Big Data“ als einen Versuch, sich immer größere Teile des menschlichen Bewusstseins und schließlich des Unbewussten zu bemächtigen. Micro-Targeting versucht, den Einzelnen immer besser kennen zu lernen, um ihn mit zielgenauen Werbebotschaften zum Konsum zu bringen. Das würde umso besser funktionieren, wenn man den User oder Kunden besser kennt als er sich selbst. Genau daran arbeitet die Emotions-Erkennung, Software, die schon heute in der Lage ist, aus unseren Gesichtern Emotionen abzulesen, die uns gar nicht bewusst werden. Han spielt mit der Hypothese, dass Big Data aus dem Es ein Ich macht. Es „könnte auch kollektive Verhaltensmuster zutage fördern, deren man sich als Einzelner nicht bewusst wäre (…) Die digitale Psychopolitik wäre dann in der Lage, sich des Verhaltens der Massen auf einer Ebene zu bemächtigen, die sich dem Bewusstsein [und damit der Gegenwehr, Th. L.] entzieht.“ Gleichzeitig verspricht der Neo-Liberalismus ja ein Ende des Über-Ichs – nicht mehr „du sollst“, sondern „du kannst“.
Auch wenn er in der Annahme irrt, das Internet vergesse nicht – eine Website hat laut Jill Lepore („The Cobweb“, New Yorker vom 26.1.15) eine durchschnittliche Lebensdauer von etwa hundert Tagen und die Timeline wird mit Facebook sterben –, sind die Konsequenzen enorm interessant, die Han für das Erzählen zieht.

Der narrative Ansatz der Moderne, sich die Vergangenheit qua Erinnerung zu erschließen, oder der Ansatz der Psychoanalyse, qua Erinnerung das eigene So-Sein zu verstehen, verschwindet, sobald sich der Mensch über seine Timeline oder sein Quantified Self (die Daten, die er über seinen Körper sammeln kann: Puls, Blutdruck, kalorien- oder schlafbezogene Daten etc.) definiert, herrscht Eindeutigkeit, während das Erzählen von der Rekonstruktion bestimmt ist, die so lückenhaft wie mehrdeutig ausfallen kann. Die Konsequenzen diesey Drift vom erzählten zum gezählten Selbst (Han) für die Literatur erscheinen zunächst wenig verlockend.

Echte Geburten, tiefe Gefühle

Möglicherweise übersieht Byung-Chul Han dabei die Welt der harten Dinge. Es wird ja nach wie vor produziert, Maschinen wie Lebensmittel, es gibt Milliarden Menschen, die nicht online sind, und viele Millionen, die das auch nicht wollen. Nach wie vor gibt es den realen Tod, den Krieg, das Morden, das sich per Internet perfide instrumentalisieren lässt, aber real geschieht. Es gibt echte Geburten, es gibt tiefe Gefühle, die älter und dauerhafter erscheinen als die digitale Welt. Es gibt weiterhin die Stadtwerke an allen möglichen langweiligen Orten der Welt. Selbst bei Mae drückt sich das Problematische ihrer Circle-Karriere am Schluss in einer mehr empfundenen als gemessenen körperlichen Ermüdung aus.

Eggers nimmt die durchsonnte Silicon-Valley-Großkotz-Unternehmenswelt vielleicht ernster als sie es verdient hat. Sie könnte einmal den Bach runtergehen. Sein Buch ist tendenziös, selektiv und überzeichnend. Es fängt vor allem einen Teil der Entwicklungen auf, die uns derzeit in ein anderes Zeitalter katapultieren. Das ist so spannend wie notwendig. Wir geben ihm ein 97er-Rating – schon sehr gut, absolut einwandfrei. Andere schaffen allerdings 98, einige sogar 100. Er könnte sich demnach noch etwas mehr anstrengen. Ein Follow-up rausschicken. Sicher kann er es schaffen.

Thomas Lang, Jahrgang 1967, lebt als Schriftsteller in München. Zuletzt veröffentlichte er den Roman Bodenlos oder Ein gelbes Mädchen läuft rückwärts (2010) und die Erzählung Jim (2012) bei C.H. Beck.

Dieser Beitrag erschien zuerst in VOLLTEXT 1/2015.

Dave Eggers: Der Circle. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 560 Seiten, € 22,99 (D) / € 23,70 (A).