Am 25. Mai 1899 bedankt sich Marie von Ebner-Eschenbach beim Kaiser in einer Audienz für die Verleihung des „Ehrenzeichens für Kunst und Wissenschaft“ – noch heute die höchste einschlägige Auszeichnung, die Österreich zu vergeben hat. Die Schriftstellerin ist, wie Franz Joseph zu bemerken geruht, nach Carmen Sylva, der dichtenden Königin von Rumänien, die zweite Frau, der er das Ehrenzeichen verliehen hat. Ebner-Eschenbach ist eine Jahrgangskollegin des Kaisers, wenige Wochen jünger als er: 1830 geboren, wird sie im selben Jahr wie Franz Joseph sterben, 1916. Wie keine andere Stimme der Literatur verkörpert sie, nicht nur durch ihre Lebensdaten, sondern auch durch ihr Werk, die Franzisko-josephinische Epoche.
Aus Anlass ihres 70. Geburtstags erhielt Marie Ebner-Eschenbach als erste Frau das Ehrendoktorat der Universität Wien. Ihr Promotor, der Germanistik-Ordinarius Jakob Minor, nannte die Ausgezeichnete mit feiner Differenzierung „unstreitig die erste deutsche Schriftstellerin, nicht bloß in Österreich, sondern auch in Deutschland. Sie ist aber auch, ganz abgesehen von dem Geschlechtsunterschied, einer der ersten deutschen Schriftsteller und heute jedenfalls der bedeutendste deutsche Schriftsteller in Österreich.“ In der Tat erreichte Marie Ebners Ruhm, der sich erst spät, um ihren fünfzigsten Geburtstag, eingestellt hatte, seinen Gipfel. In einer die deutschen Lande umspannenden Unternehmung, der sogenannten „Ebner-Feier“, fand eine Aufführung dreier ihrer Einakter im Burgtheater statt, richteten „die Frauen Wiens“ eine Grußadresse mit 10.000 Unterschriften an die Jubilarin und wurde eine silberne Ebner-Medaille geprägt, die der deutsche Literaturnobelpreisträger Paul Heyse mit einem Huldigungsgedicht begleitete. Die Baronin von Ebner-Eschenbach war eine Starautorin, sie versandte hunderte Autogrammkarten und vorgedruckte Dankbilletts. An der Schwelle des neuen Jahrhunderts, als die nächste Generation der „Modernen“ Bahr, Schnitzler, Hofmannsthal zu reüssieren begann, war sie die regierende Fürstin der Literatur.
Gemessen an ihrem Lebensplan, ist Ebner-Eschenbach aber eigentlich spektakulär gescheitert: Was sie werden wollte – und sie wollte von klein auf etwas werden – ist sie nicht geworden: der Shakespeare des 19. Jahrhunderts. Bereits als Mädchen hatte sie, wie sich ihr späterer Mann erinnert, ein ganz unweibliches heißes „Verlangen nach großen Thaten“, die sie aber auf der Bühne zu vollbringen gedachte.
Bis in die Schullesebücher unserer Tage hat Ebner-Eschenbach vor allem mit ihren Novellen Er laßt die Hand küssen, Die Spitzin und, natürlich, Krambambuli, der Apotheose der Hundetreue, überdauert. Ihr daneben bekanntestes Werk ist wohl der Roman Das Gemeindekind, den die Autorin selbst wie alle ihre längeren Texte „Erzählung“ genannt hat. Das Denkmal der Klassikerin des Poetischen Realismus hat jedoch unleugbar Staub angesetzt. Die „Dichterin der Güte“ und des Mitleids hat den Hautgout der Langeweile, aber auch der Rührseligkeit. Ebner-Eschenbachs Image ist heute nicht nur das einer immer schon alten, sondern das einer altmodischen Frau. Was vor gut hundert Jahren Gegenstand der Verehrung war, ist zum Rezeptionshindernis geworden.
In der Literaturwissenschaft gibt es in den letzten Jahrzehnten zwar einerseits ein verstärktes Interesse vor allem von Germanistinnen aus dem angelsächsischen Raum, die im Kanon des 19. Jahrhunderts nach bedeutenden Autorinnen suchen und neben Annette von Droste-Hülshoff im Grunde nur Ebner-Eschenbach finden. Auf der anderen Seite hat sich das skizzierte Muster einer kritischen Rezeption verfestigt, die der einst Gefeierten einen amodernen Hang zur Harmonisierung und ein konservatives Weltbild unterstellt.
Der bornierte Blick
Wie konnte es dazu kommen, dass Marie Ebners männlicher Gestus ebenso übersehen wird wie die modernen Signale der Ambivalenz und Subversion in ihrem Werk? Zum ersten malte sie selbst mit am Bild der altersweisen, gütigen, tierlieben, bescheidenen Dichterin – wobei Bild auch wörtlich zu verstehen ist: Wie Peter C. Pfeiffer gezeigt hat, hat sie durch die Auflage von Korrespondenzkarten mit ihrem Altersbild dazu beigetragen, dass das „altfrauliche und entsexualisierte Image“ der Marie von Ebner-Eschenbach sich verfestigte.
Es scheint zweitens, als würde ein differenzierender Blick auf die Literatur des 19. Jahrhunderts allzu oft dem Fetisch Moderne geopfert. Die Werke einer Ebner-Eschenbach, eines Ferdinand von Saar, eines Peter Rosegger oder auch Charles Dickens müssen heute vor rückwärts projizierten ästhetischen Kriterien bestehen. Was immer auf den Leser rührend und ergreifend zu wirken vermag, gerät unter den Generalverdacht des Kitsches. Die Angst vor Gefühl und Sentiment (das sich sehr wohl etwa auch bei Schnitzler oder Thomas Mann findet) steht so heute einer Würdigung von echtem Pathos im Wege. Literatur als „Axt für das gefrorene Meer in uns“, um mit Kafka zu sprechen, ist aber ein Werkzeug von mannigfacher Gestalt. Es mag eine Sache des Etiketts sein: Statt Güte und Mitleid kann man auch Engagement und pädagogischen Eros, Herzensbildung, existenzielle Betroffenheit und Intensität ins Treffen führen.
So scheint die Kritik an Ebner-Eschenbach in mehrfacher Hinsicht symptomatisch für germanistische Borniertheit. Zweifellos hat die überaus produktive Autorin auch wenig geglückte sentimentale oder melodramatische Texte verfasst. Aus dem Kontext gerissene Passagen verraten jedoch oft nur die oberflächliche Lektüre des Interpreten. Der Schluss der Geschichte Der Herr Hofrat, für den langjährigen Ordinarius der Universität Augsburg Helmut Koopmann „an Mediokrität kaum zu überbieten“, ist in seiner strahlenden Idyllik nur recht zu begreifen, wenn man weiß, dass ein alter Hagestolz sich in die Frau seines Neffen verschaut hat und einsam zurückbleibt, während das junge Paar zur Sommerreise aufbricht: „Und sie fuhren mit sonnenhellem Herzen in den sonnenhellen Tag hinaus, den grünen Wäldern und Bergen, den schimmernden Seen […] entgegen; […] und kraft ihrer Liebe und Begeisterung gehörte ihnen die Welt.“
Der österreichische Sonderweg eines nicht immer nur „poetischen“ Realismus, der etliche Berührungspunkte mit dem Naturalismus zeigt, ohne dass sich ein solcher ausgebildet hätte, wird drittens von (reichs-)deutscher Warte häufig ebenso übersehen wie der jenen kennzeichnende Hang zur Ironie und zur Melancholie. Dass Ignoranz und Arroganz einer Wissenschaft nicht gut anstehen, wusste schon die junge Marie Ebner, als sie in ihrer Satire Aus Franzensbad die „österreichische Muse“ beim deutschen „Zeus“ Gervinus, dem Göttervater der Literarhistoriker, abblitzen lässt: „Lerne mich kennen, Großer, Unfehlbarer, Allwissender!“ – „Ich lerne nicht mehr; ich lehre.“
Als mindestens genauso haltbar erweist sich viertens das philologische Vorurteil gegen die „Frauenliteratur“: Zu ihrem Glück, so Koopmann, habe Marie Ebner nicht im klassischen Weimar publiziert, denn dann hätten Goethe und Schiller sie „den Dilettantinnen, den schreibenden Frauenzimmern“ zugerechnet und verachtet – was an deren Stelle nun der Literaturwissenschaftler besorgt. Wer „Oberflächlichkeit“ für das „Stigma dieser Frauenliteratur des 19. Jahrhunderts“ hält, kann die Mitleids-Konzeption einer Ebner-Eschenbach als „falsche Religiosität“ abtun, statt sich mit ihren Wurzeln in der gründlichen Schopenhauer-Lektüre der Autorin zu beschäftigen. Der kann einerseits seinem Gegenstand echte Weiblichkeit absprechen („Kann man sich vorstellen, dass diese Frau wild, exzessiv, grenzenlos geträumt hat?“) und ihm andererseits eben diese Weiblichkeit in aestheticis zum Vorwurf machen: „Dienstmädchenliteratur“, „Gartenlaubenstil“ und „Gouvernantenhaftes“; entweder „unweibliche“ Beherrschtheit oder feminine Gefühligkeit – das klassische Doublebind des Germanisten.
Ebner-Eschenbach wusste wohl: „Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: – alle dummen Männer.“ Was Marie Ebners Haltung vielen in Wahrheit verdächtig macht, ist, was schon Zeitgenossen bemerkt haben: ihr prononciert „männliches“ Schreiben, ihr energischer Zugriff auf den Stoff, ihr Scharfblick, ihre unverhohlene Lust am Urteil, am Spott, an der Karikatur, ihre – um mit Elfriede Jelinek zu sprechen – phallische Anmaßung.
Helmut Koopmann hat die germanistische Kritik an Ebner-Eschenbach exemplarisch auf die Spitze getrieben. In einem Sammelband zum 75. Todestag 1994 formuliert er sein Lektüre-Resümee noch positiv: „Spätherbst einer Gesellschaft. Soziale Erzählkunst in Marie von Ebner-Eschenbachs Novellen“. Die Vorstellung, die Autorin habe „die alte, untergehende Adelsgesellschaft“ der Monarchie „verherrlicht, sie habe biedermeierliche Dorf- und Schloßgeschichten geschrieben“ sei falsch. Ihre erzählerische Welt sei eigentlich eine „Katastrophenlandschaft“: „Soziale Erzählkunst ist auch die Kunst, den Untergang einer sozialen Welt darzustellen.“ Koopmann bemängelt zwar sentimentale Passagen, er konstatiert, dass der Rückgriff auf die „Ideale des 18. Jahrhunderts“, auf Verständnis, Toleranz und Mitmenschlichkeit, den Texten „bei aller Modernität ihrer Sozialdiagnose, etwas Altmodisches“ verleihe, aber er will dies nicht als Vorwurf verstanden wissen.
Fünf Jahre später hat sich die Waage des Interpreten deutlich zuungunsten Ebner-Eschenbachs geneigt, was sich bereits im eher despektierlichen Titel des Aufsatzes ausspricht: „Schloß-Banalitäten. Lebenslehren aus einer halbwegs heilen Welt“. Koopmanns Text ist weniger eine Analyse denn eine Philippika – oder eher ein Pamphlet, ist er doch für eine literaturwissenschaftliche Studie erstaunlich emotional. Auf den 17 Seiten der Abhandlung fällt, vom Titel abgesehen, sechsmal das Wort „Banalitäten“, fünfmal „Kitsch“ oder „kitschig“. Sie entbehrt ein Mindestmaß an philologischer Sorgfalt, ist voll von Wiederholungen, doppelten Zitaten und falschen Inhaltsangaben.
Der Autor lässt an seinem Objekt kein gutes Haar, weder menschlich noch literarisch. Die Baronin Ebner-Eschenbach, heißt es gleich zu Beginn, habe „hemmungslos“ produziert, aber hätte sie langsamer geschrieben, „sähe es wohl in ihren Erzählungen […] und Romanen nicht anders aus“; in manchem widerspricht Koopmann seinen früheren Urteilen diametral: Vieles sei „heruntergekommenes Biedermeier“, vieles „nach Gutsherrinnenart“, nämlich „etwas herablassend“, die Gesellschaftsordnung sei „die heilige Kuh“.
Zu Ebners Aphorismus „Zuviel Talent kann man nicht haben, aber zu viele Talente“ bleibt dem Porträtisten „nur hinzuzufügen, daß sie weder das eine noch das andere zu haben scheint.“ Und: „Ihre Leser und Interpreten sind freilich lange genug darauf hereingefallen.“
Eine Zerrissene
Marie Ebners Weg zum Ruhm war ein Umweg gewesen, ein steiniger dazu. Die Tochter des Grafen Dubsky musste ihren Ehrgeiz gegen den Willen ihres Vaters und ihrer Brüder befriedigen, auch ihr Ehemann – und Cousin – Moritz Freiherr von Ebner-Eschenbach, der sich um ihre Bildung nachdrücklich angenommen hatte, missbilligte ihre dramatischen Versuche. Eine Frau als Theaterautorin galt um 1860 noch als unerhört, die adeligen Herren, allesamt Offiziere, fürchteten nach etlichen Verrissen im Feuilleton um den Ruf der Familie. Als „M. Ebner-Eschenbach“ hatte Marie ihr Drama Maria Stuart in Schottland auf den Postweg geschickt, als das vermeintliche Stück eines Autors wurde es schließlich vom berühmten Intendanten Eduard Devrient in Karlsruhe angenommen. In Österreich indes blieb Marie von Ebner-Eschenbach auch als Verfasserin von Gesellschaftsstücken glücklos. 1873 fiel ihre mit dem Hochadel saftig abrechnende Komödie Das Waldfräulein im Wiener Stadttheater bei der Presse so gründlich durch, dass die Autorin dem Theater den Rücken kehrte.
Erst jetzt, jenseits der vierzig, wandte sie sich der Gattung zu, die sie berühmt machen sollte: der Erzählung. Die „schmale Ernte“ ihres ersten Erzählbandes, der 1875 bei Cotta erschien, schickte sie, „so ziemlich am Ende meiner Laufbahn angelangt“, ihrem alten Freund Devrient: „Mein Talent hat nicht gehalten, was Sie und ich uns einstens davon versprachen.“ – In der Novelle Ein Spätgeborner spiegelt die Autorin ihre Verwundung durch die Kritik in der Gestalt des beamteten Nebenbeidichters Andreas Muth, der in Folge einer Verwechslung zu Bühnenehren gelangt und an der Intrige eines routinierten Meinungsmachers zugrunde geht. Zwanzig Jahre vor Arthur Schnitzlers jüngst mit großem Trommelwirbel ausgegrabener Erzählung Später Ruhm hat Ebner-Eschenbach den Plot komplexer, dichter, böser behandelt. Bei ihr endet der Held nicht in Philister-Behaglichkeit, sondern tragisch.
Die „Erzählungen“ stießen auf freundliches Echo, wirklichen Erfolg jedoch erzielte Marie Ebner erst mit ihrem Roman Lotti, die Uhrmacherin, der 1880 zunächst in Fortsetzungen in der angesehenen Deutschen Rundschau Julius Rodenbergs erschien.
Will man Marie Ebner heute Gerechtigkeit widerfahren lassen, muss man sie als eine Zerrissene zwischen den Epochen, den politischen und den literarischen Strömungen begreifen. Als die 18-jährige Gräfin Dubsky just im Revolutionsjahr 1848 ihren um 15 Jahre älteren Cousin heiratet, kann sie sich nach dessen Zeugnis nicht entscheiden, „ob sie die Parthei der Bedrohten oder die der Bedrohenden ergreifen sollte“. In ihrer Familie galt sie auch Jahrzehnte später als „Freigeist“ und lebte in immer wieder aufflackernden Konflikten. Wie ihr Gatte, der es als Militärtechniker zum General bringen sollte, sah sie die kaiserliche Politik zeitlebens kritisch und blieb doch stets patriotisch. Wie er stand sie der katholischen Kirche distanziert gegenüber, ohne sich von den christlichen Werten zu verabschieden.
Ebner-Eschenbachs Kritik an ihrem eigenen Stand zielte aber nicht auf eine Abschaffung, sondern eine Art Renobilitierung des Adels ab: Nur wer seine Privilegien durch echte Verdienste um das Gemeinwohl zu rechtfertigen imstande sei, verdiene auch, sie zu behalten. „Satirisches gibt es nicht bei Ebner-Eschenbach, daran hindert sie ihr Verzeihensblick“, dekretiert Helmut Koopmann, der im Eifer der Klischee-Suche selbst kein Rezeptionsklischee umschifft. Denn wie anders als satirisch ließe sich die Brieferzählung Aus Franzensbad bezeichnen, die die junge Marie Ebner 1858 wohlweislich anonym veröffentlichte und in der sie nicht nur die reichsdeutschen Literaturpäpste, sondern auch die Dünkel der im böhmischen Franzensbad kurenden adeligen Damen und Herren aufs Korn nahm.
Einen ironischen, ja sarkastischen Zugriff hat auch Ebner-Eschenbachs Erzählung „Er laßt die Hand küssen“, die 1886 in den Neuen Dorf- und Schloßgeschichten erschien. Die Novelle spielt in absolutistischer Zeit: ein Gärtner namens Mischka verscherzt sich die Gunst der Schlossherrin dadurch, dass er ohne Trauschein mit Weib und Kind lebt. Im Namen der Moral verfügt die Gräfin gegen den hartnäckig Unbotmäßigen am Ende fünfzig Stockhiebe. Seine Begnadigung auf Fürsprache des Dorfarztes erlebt Mischka nicht mehr, wie der stets untertänigste Kammerdiener Fritz vermeldet: „Er laßt die Hand küssen, er ist schon tot.“
Mit Hilfe der Erzählstimme der Rahmenhandlung – ein alter Graf erzählt einer alten Gräfin die Geschichte seiner Großmutter – zeigt Ebner-Eschenbach das Handeln der Vorfahrin in einer psychoanalytisch verfolgbaren Motivkette unmissverständlich als durch Sexualneid motiviert. Am Ende sagt die Gutsherrin, deren Regiment vor Tisch und Bett ihrer Untertanen nicht haltgemacht hat, zum Arzt, er möge sie „mit den häuslichen Angelegenheiten der Leute verschonen“: „da mische ich mich nicht hinein.“ Die (Land-)Ärzte treten in Marie Ebners Erzählungen überhaupt als Vorfahren des Dr. Schnitzler auf, als Anwälte der Aufklärung und Vernunft, als Widersacher der Pfarrer und Sympathisanten des gemeinen Volkes.
Nicht nur die Sprache der Figuren, vor allem die Ironie des Erzählers, der von einer „kleinen Übereilung“ seiner Vorfahrin spricht, entlarvt hier eine verbrecherische Selbstgerechtigkeit. „Soziale Kritik? Sie ist verhüllt und verkleidet“, lautet Koopmanns Kommentar. In Wahrheit legt die von Bildern des Prügelns durchsetzte Novelle radikal bloß, wie Herrschaft sich förmlich einschreibt in die Haut des Untertanen, und sie tut das auf eine Weise, die durch betonte Distanz in der Erzählhaltung unter die Haut der Leser gehen soll. Die erste Adressatin der pädagogischen Bemühung ist die den feudalen Zeiten nachtrauernde Zuhörerin, die das Wort des Erzählers – „Der Mischka […] schämte sich in seine Haut hinein“ – prinzipiell anzweifelt: „Es ist doch stark, daß Sie jetzt gar in der Haut Mischkas stecken wollen!“ Die Antwort des Grafen ist eine poetologische Selbstcharakterisierung der Autorin: „Bis über die Ohren! […] bis über die Ohren steck’ ich darin! Ich fühle, als wäre ich es selbst, die Bestürzung und Beschämung, die ihn ergriff.“
Alles ist Geschichte
Diese mit Nachdruck verfochtene Position eines empathischen Realismus verbindet die Darstellung der Conditio humana mit einer präzisen Psychologie und dem treffsicheren Zeitbild. Ebner-Eschenbach erzählt, in einem Reflex der Lehre Darwins, mit Sympathie von einem Vater, der seine als genetisch böse erkannte Tochter als unwertes Leben gleichsam zum Tod verurteilt (Das Schädliche), und sie verhandelt, ebenfalls verständnisvoll, das Thema Euthanasie aus dem Blickwinkel eines Arztes (Die Reisegefährten). Sie schildert die Dressur eines Vierzehnjährigen durch seinen ehrgeizigen Kleinbürger-Vater, die mit dem Selbstmord des Sohnes endet (Der Vorzugsschüler). „Tragisches wird selten sichtbar“, meint Koopmann, über allem liege ein „Hauch von Verklärung“.
Wie Theodor Fontane in Deutschland oder Ferdinand von Saar in Österreich wollte Ebner-Eschenbach soziale Wirklichkeit darstellen, ohne Elendsmalerei zu betreiben. Vom Naturalismus distanzierte man sich bewusst, obwohl Saar mit seiner Novelle Die Steinklopfer ein literarisches Denkmal der für den Bau der Semmeringbahn ausgebeuteten Arbeiter schuf und Ebner-Eschenbach mit dem Gemeindekind (1887) die Geschichte eines dörflichen Außenseiters schrieb, der den Circulus vitiosus von schlechtem Ruf und schlechtem Benehmen durchbricht und als wahrer Selfmademan vom Dieb zum Mitglied der Dorfgemeinschaft aufsteigt. Auf dem väterlichen Gut im mährischen Zdislawitz, ihrem Geburtsort, sind Marie Ebner solche „Gemeindekinder“ begegnet.
Von der Perfidie demonstrativer Rechtschaffenheit und der zerstörerischen Kraft des Vorurteils handelt dieses Schlüsselwerk des Spätrealismus; von Koopmann als „gefühlsreich und tränenselig“ bezeichnet, rührt es gerade durch seine unsentimentale Haltung: Die Kinder eines als Mörder zum Tode verurteilten Taglöhners fallen in die Obhut der Gemeinde. Während das Mädchen Milada von der Schlossherrin in einem Kloster untergebracht wird, kommt der Bub beim Dorfhirten unter, der das Kostgeld in die eigene Tasche steckt. Die Prognose für Pavels Zukunft ist düster, und dieser tut das Seine, um ihr zu entsprechen. Alle falschen Beschuldigungen gegen sich rächt der Bub mit echten Vergehen. Dennoch ist das Gute von Anfang an in ihm angelegt, als das „Bewusstsein einer Macht“, „einer andern, einer höheren als der, die seine starken Arme und sein finsterer Trotz ihm oft verliehen“. Diese Macht wirkt in Pavels zähem Kampf um Bewährung, mit vielen Rückschlägen und ohne rundum guten Ausgang. Pavel verschafft sich zwar endlich Respekt, doch in seinem Vertrauen nachhaltig beschädigt, nimmt er keine Frau und gründet keine Familie.
Das Gemeindekind ist ein Entwicklungs- und Bildungsroman, dessen Held sein Selbstbewusstsein nicht allein über materiellen Besitz, sondern auch über die Fähigkeit zur sprachlichen Artikulation gewinnt. Ebner-Eschenbach zeigt psychologisch scharfsichtig die Ausgrenzungsmechanismen einer dörflichen Gemeinschaft, sie nimmt die anachronistische Adelsherrschaft genauso aufs Korn wie die Kirche: Die Nonnen lassen die kleine Milada an allzu heiligmäßiger Kasteiung sterben. Der Lehrer mit dem sprechenden Namen Habrecht vertritt die Aufklärung. Der Atheist praktiziert als einziger christliche Nächstenliebe. Habrecht lehrt Pavel, dass nur wer so weit kommt, sich selbst zu achten, der allgemeinen Verachtung standhalten kann. Sein Credo, dass heute jedem, der nicht blind sei, „der leere Teller des Nachbars den Appetit verderben“ müsse, formuliert Marie Ebners Haltung in der „sozialen Frage“, die ihr die Bewunderung Viktor Adlers eintrug und die Wiener Arbeiter-Zeitung zum Abdruck des Gemeindekinds bewog. Bei aller Distanz zum Sozialismus machte Ebner bewusst Menschen von niedrigem Stand zu ihren Protagonisten und gab ihnen ihre eigene, dialektal geprägte Sprache. Pavel legt Zeugnis ab wider den von den Naturalisten propagierten Determinismus. Die Autorin glaubte an das Individuum und an die Möglichkeit der Selbstschöpfung aus freiem Willen. Ein Heiliger wird Pavel nicht – aber dafür überlebt er. Das Motto stammt von George Sand: „Tout est l’histoire“, „Alles ist Geschichte“.
Eine ähnliche Entwicklung zeigt Ebner-Eschenbach in der Erzählung Der Kreisphysikus: Über Jahre ist Doktor Nathaniel Rosenzweig, ganz dem Klischee des Juden entsprechend, allein auf die Mehrung seines Besitzes aus und hilft seinen Kranken nur aus professionellem Stolz. Dem äußeren Aufstieg lässt die Autorin jedoch eine innere Läuterung folgen, auch hier löst sich die Verhärtung des Herzens, und Rosenzweig entdeckt sein soziales Gewissen. Im Wien des Dr. Karl Lueger bezog die Baronin Ebner-Eschenbach klar Stellung: Sie trat Bertha von Suttners „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ bei und hielt den Bürgermeister schlicht für einen „Schuft“.
Eine gescheite Frau
Ein öffentliches Bekenntnis zur Frauenbewegung hat sie dagegen nie abgelegt, wiewohl ihre Aphorismen eine klare Sprache sprechen: „Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt.“ In ihren Heldinnen zeichnet Marie Ebner immer wieder starke, stolze, tüchtige, ja ehrfurchtgebietende Frauen, die ihre ethischen Grundsätze – Treue, Wahrheitsliebe, Gerechtigkeit – bisweilen mit ungeheurem Starrsinn bis zur Selbstbestrafung exekutieren. Maria Gräfin Dornach in Unsühnbar zählt dazu, eine österreichische Effi Briest, die mit dem Geständnis ihres Ehebruchs nach dem Tod des Gatten sich und ihr Kind aus Familie und Gesellschaft ausschließt und sich konsequent ins Grab grämt. Auch Lotti, die Uhrmacherin, die Heldin des ersten Handwerkerinnen-Romans deutscher Sprache, leistet Verzicht – auf ihren unreifen Bräutigam, der sein Dichter-Talent verschleudert, während Lotti ihr Handwerk zur Kunst veredelt.
Vor allem aber sind es Frauen aus dem Volk, mährische Bäuerinnen und Mägde (Ebner-Eschenbach sprach von klein auf Tschechisch), die in ihren Geschichten über sich hinauswachsen; am markantesten die Titelheldin des Romans Bo‑ena, die Magd mit dem Gardemaß, die sich in einem schwachen Moment mit einem unwürdigen Mannsbild einlässt und deshalb ihre Aufsichtspflicht gegenüber der Tochter ihres Dienstherrn, des Weinhändlers Heißenstein, vernachlässigt. Von da an weiht sie ihr Leben dem Bemühen, den Fehler – die Tochter ist mit einem Leutnant durchgebrannt – wiedergutzumachen. Überlegen zieht sie die Fäden, um am Ende über Lüge und Intrige, über bourgeoisen Geltungsdrang und eingebildete Gebildete zu triumphieren.
Nicht Moral im Sinne der herrschenden Sexualmoral, sondern Selbstachtung ist das Movens der Ebnerschen Figuren. Unversöhnt bleiben der reiche Bauer und die arme Bäuerin an der Totenbahre ihrer Mutter (Die Totenwacht): Vor Jahren hat er sie vergewaltigt und mit dem Kind allein gelassen – jetzt lehnt sie seinen Antrag ab. Mit Selbstachtung hat auch der Selbstmord der Professorengattin zu tun, die sich in Das tägliche Leben (siehe untenstehenden Text) am Vorabend ihrer Silbernen Hochzeit erschießt und so die Fassade bürgerlicher Familienideologie zum Einsturz bringt. Hier wird nichts mehr heil. Illusionslos moderne Texte wie dieser zeigen augenfällig, wie wenig die Punze des „Guten Menschen von Zdißlawitz“ (Gertrud Fussenegger) Ebner-Eschenbach gerecht wird.
Bereits ihre Lobredner zu Lebzeiten haben, wie Manuela Günter gezeigt hat, durch die „geschlechtliche Markierung“ ihres Werkes dessen Anerkennung als „Literatur“ diskreditiert und die bescheidene Marie Ebner in den „Mythos von der großen ‚Mutter‘“ eingereiht: „Die Autorin galt fortan als sentimentale Seele […]: nicht ihr Anspruch auf eine ‚männliche‘, also eine durch sich selbst autorisierte Stimme wird wahrgenommen, sondern nur die Maskierung, hinter der sie diesen Anspruch zu verbergen hofft.“ So sei es gelungen, im Zuge der Kanonisierung Ebner-Eschenbachs „subversives Potential“ zu entschärfen. Die „Millionen geborener Feinde“ der „gescheiten Frau“ seien so dumm also nicht gewesen.
So bleibt Ebner-Leserinnen und -Lesern wohl gar nichts anderes übrig, als ihnen im Dienste der Denkmalpflege mit einer echt weiblichen Waffe entgegenzutreten: dem Staubwedel.